Kiew. Die Ukraine erlebt eine der schlimmsten Angriffsnächte seit Kriegsbeginn – auch unser Reporter in Kiew, der im Schlaf überrascht wird.
In fast zwei Jahren Krieg habe ich mich an vieles gewöhnt, woran man sich eigentlich nicht gewöhnen möchte. Als Russland im Mai 2023 die ukrainische Hauptstadt Kiew beinahe jede zweite Nacht aus der Luft angriff, wurde es zur neuen Normalität, dass mich etwa um vier Uhr morgens entweder die Sirenen des Luftalarms oder Explosionen aus dem Schlaf rissen. Anstatt jedes Mal um diese Uhrzeit in den nächstgelegenen Luftschutzkeller zu laufen, der doch einige Minuten entfernt ist, habe ich meine Matratze oft im Wohnungsflur hingelegt. So hätten mich zumindest einige Wände geschützt, falls das Fensterglas unter einer Druckwelle zerbrochen wäre.
Mir boten sich damals teils apokalyptische Szenen. In einer Nacht, in der das Flugabwehrsystem Patriot erstmals mehrere moderne russische Kinschal-Raketen abfangen musste, erinnerte der Himmel über Kiew an Bilder aus „Star Wars“. Doch selbst damals habe ich nicht derart kalte Füße gekriegt wie an diesem Dienstagmorgen.
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Luftalarm in Kiew: Marschflugkörper und Raketen machen das Schlafen unmöglich
Die erste Angriffswelle mit Drohnen hatte ich gänzlich verschlafen. Doch dann machten Marschflugkörper und Kinschal-Raketen, von Russland fälschlicherweise als Hyperschallwaffen bezeichnet, das Schlafen unmöglich. Minütlich explodierte irgendwo etwas – und zwar so, dass die Wände wackelten. Die Strom- und Wasserversorgung waren gestört, das Heulen der Auto-Alarmanlagen mischte sich mit den Sirenen der Feuerwehr. So ging es die ganze Zeit.
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In einer solchen Situation muss man schnell Entscheidungen treffen – und ich habe mich erneut für den Wohnungsflur statt den Luftschutzkeller entschieden. In diesem Moment war das auch richtig, doch tief im Herzen wäre ich gern früher aufgewacht, um einen Schutzraum zu erreichen. Wenn die Kiewer Flugabwehr so heftig gegen russische Marschflugkörper arbeitet, ist die Gefahr groß, dass herabfallende Trümmer jeden treffen, der sich auf der Straße aufhält. Und sei es, um zu einem Schutzraum zu laufen. Ich hätte mir gewünscht, dass uns dieses Dilemma erspart geblieben wäre. Doch die russische Staatsführung hat anderes im Sinn.
Russische Angriffe auf Kiew: Was für eine sinnlose Zerstörung
Gemessen an der Intensität der Angriffe war das der schwerste Morgen, den ich hier im Nordwesten Kiews – im recht netten und von mir sehr geliebten Stadtteil Obolon – seit Kriegsbeginn erlebt habe. Meine Begeisterung für Obolon, einen der besseren Bezirke der ukrainischen Hauptstadt direkt am Dnipro-Fluss, teilt offenbar auch Wolodymyr Selenskyj. Der Präsident hat vor seinem Wahlsieg 2019 in dem Stadtteil gewohnt – danach zog er ins Regierungsviertel.
Seit dem Morgen sieht Obolon vor allem angeschlagen aus. Ein Café, in das ich gern zum Frühstücken gehe, hat nun erst mal weniger Fenster als zuvor. Kleinere Trümmer und zerbrochenes Glas wurden zwar schnell von den Straßen geräumt, doch beim Blick auf den schwarzen Rauch im Hintergrund denke ich mir vor allem eines: was für eine sinnlose Zerstörung.
Binnen weniger Tage war es bereits der zweite große Angriff auf Kiew und das Hinterland der – und wieder hat Russland mit allem geschossen, was sein Langstreckenarsenal hergibt. Die Zeiten, in denen Moskau fast ausschließlich billige Drohnen einsetzte und auf Marschflugkörper und Raketen verzichtete, sind vorbei. Ganz offensichtlich war das Ziel, genug Mittel für den groß angelegten Beschuss am 29. Dezember und 2. Januar zu sammeln.
Schon beim Angriff Ende Dezember waren fast 160 Raketen und Drohnen eingesetzt worden – so viele wie vielleicht nur am 24. Februar 2022, dem ersten Tag des Krieges, über den genaue Daten noch fehlen. Der damalige Beschuss war breiter über die Ukraine verteilt gewesen, doch auch Kiew war stark betroffen, rund 30 Menschen starben. Der 1. Januar wurde deshalb zum Trauertag erklärt.
Russlands zynisches Kalkül: Die Flugabwehr in der Ukraine gezielt überlasten
Dieses Mal konzentrierte sich der Angriff auf Kiew und Charkiw, wo es Tote und Dutzende Verletzte gibt. Allein auf die Hauptstadt der Ukraine zielten 70 Raketen und Marschflugkörper – ein Wunder, dass es nicht noch höhere Opferzahlen gibt. Mindestens vier Menschen sind getötet worden. „Mein Beileid den Angehörigen und Nahestehenden“, schrieb Selenskyj bei Telegram. Zudem seien mehr als 90 Menschen verletzt worden. Und mehr als 500 Rettungskräfte waren im Einsatz. In den sozialen Medien kursierte eine Videoaufnahme, die eine abgefangene Rakete zeigt, wie sie nur wenige Meter neben einem Wohnblock in den Fluss stürzt. Zahlreiche andere Gebäude wurden getroffen, darunter auch ein Tesla-Autohaus.
Russlands zynisches Kalkül: Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich mitten in einem schweren Winter befinden, sollen nicht nur weiter eingeschüchtert, auch die Flugabwehr der Hauptstadt soll überlastet werden – so lange, bis der Ukraine die Abwehrraketen für das Patriot-System ausgehen. Ohne sie haben Kinschal und ballistische Raketen leichtes Spiel. Und gerade jetzt, wo die Ukraine-Hilfen der USA blockiert sind, könnte diese gefährliche Strategie aufgehen.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba rief die Verbündeten Kiews deshalb zu schnelleren Waffenlieferungen auf. Der Westen müsse „auf entschiedene Art reagieren“, erklärte Kuleba in Kiew. Vor allem müssten „zusätzliche Luftverteidigungssysteme und Kampfdrohnen aller Art“ geliefert werden. Zudem benötige die ukrainische Armee mehr „Raketen mit einer Reichweite von mehr als 300 Kilometer“.
Raketenalarm in der Ukraine: Der Plan des Kremls geht nicht auf
Bei den Menschen erreicht der Kreml – wie schon mit dem Beschuss der Energieinfrastruktur im vergangenen Winter – allerdings eher das Gegenteil. Die Stimmung mag komplizierter sein als im Januar 2023, als riesige Stromversorgungsprobleme angesichts der militärischen Siege in Charkiw und der Stadt Cherson zweitrangig erschienen. Die große Offensive vom Sommer hat nicht zum Erfolg geführt, ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht – und es gibt Spekulationen über prinzipielle Meinungsverschiedenheiten zwischen der politischen und militärischen Führung.
Auch innenpolitisch entbrennt immer wieder Streit: Eine Entwicklung, die zum Jahresende zugenommen hat. Doch der massive russische Beschuss ist auch eine klare Erinnerung daran, wo der Feind sitzt. Kaum etwas bringt mehr Spenden für die ukrainische Armee als russische Luftangriffe.
Im Stadtteil Obolon im Nordwesten Kiews läuft das Leben am Nachmittag weiter. Cafés und Geschäfte öffnen nach und nach wieder, wenn auch mit Verspätung. Die zerbrochenen Fensterscheiben werden teilweise schon ersetzt – und trotz des extrem unangenehmen, kalten Windes trauen sich immer mehr Menschen auf die Straßen. Sie wissen ganz genau, dass schon in den kommenden Tagen ein neuer, ähnlich folgenschwerer Beschuss folgen könnte. Darauf, so scheint es, hat sich Russland in den vergangenen Monaten gezielt vorbereitet.