Berlin. Der eine rappt über Primzahlen, der andere will Jugendliche aus „Kasernenstrukturen“ retten. Schulen können viel von beiden lernen.
Eine neue Pisa-Studie, ein neuer deutscher Bildungsschock. Besonders in Mathematik ist die Leistung der deutschen 15-Jährigen laut der von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aufgelegten Studie in den vergangenen Jahren rapide abgefallen. Während die Schulen über Lehrer- und Geldmangel klagen, hat sich inzwischen eine Szene von Mathe-Influencern gebildet. Für Schülerinnen und Schüler, die an veralteten und lebensfremden Lehrmethoden verzweifeln, sind sie oft die letzte Chance.
Daniel Jung ist für Schülerinnen und Schüler längst ein Begriff. Berühmt geworden ist er mit Lernvideos. Inzwischen hat er 914.000 Abonnenten auf Youtube. Seine Videos sind simpel, aber effektiv: Nur an einem Whiteboard erklärt er Schülerinnen und Schüler die Lösungen für mathematische Probleme. Ohne viele Effekte oder Ablenkung spricht er ruhig, einfach und verständlich. Dabei sind Jungs Videos nicht sehr anders als Frontalunterricht. Was ihn aber vom regulären Unterricht unterscheidet: Seine Videos sind jederzeit abrufbar und nach Themen in Playlists geordnet, je nachdem, welches Lernbedürfnis es gerade gibt.
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Inzwischen produziert Daniel Jung außerdem Lernhilfen und moderiert einen Podcast – und er erklärt auf Fachkonferenzen, worauf es bei der Vermittlung von Mathematik ankommt. Die Pisa-Diskussion nervt ihn. „Es ist ermüdend, immer wieder über das Gleiche zu sprechen“, sagt er. „Das Schulsystem, wie wir es kennen, ist überholt. Punkt, Ende, aus.“ Schulen müssten raus aus „Kasernenstrukturen“. Die Klassen seien zu fest, der Frontalunterricht zu starr.
„Digitalisierung bedeutet nicht nur, Kindern Tablets in die Hand zu drücken“
Lehrerinnen und Lehrer, fordert Jung, müssten einfach machen dürfen. „Digitalisierung bedeutet nicht nur, den Kindern Tablets in die Hand zu drücken.“ Er kenne Projekte, in denen engagierte Lehrkräfte mit ihren Klassen Podcasts starten. Die Schüler müssten recherchieren, ihr Projekt planen. Das funktioniere nur, wenn sie die Inhalte auch verstehen. „Stattdessen steht immer noch der Overheadprojektor in den Klassen und es gibt Frontalunterricht.“ Selbst wenn innovative Lehrkräfte neue Methoden einsetzen wollen, dann scheiterten sie oft an der Bürokratie.
Stefan Düll wiegelt ab. Er ist Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes. Der 58-Jährige sieht die Probleme sehr viel grundlegender. „Wir haben einen Anteil von fast einem Viertel an Schülerinnen und Schülern aus der ersten und zweiten Migrantengeneration. Viele sprechen nicht gut deutsch. Wenn jemand die Aufgabe nicht lesen kann, weil er die Sprache nicht spricht, dann wird er sie auch nicht lösen können.“ Dazu kämen Defizite aus der Corona-Pandemie, mit denen die Schulen nach wie vor zu kämpfen hätten. „Ich möchte die Studie nicht überbewerten, Pisa hat seine Schwächen.“ Aber die Probleme in vielen Bereichen seien schon lange bekannt. Es ändere sich allerdings nichts.
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Die Lehrerschaft scheint zudem gegenüber digitalen Lehrmitteln als Heilsbringer des Schulsystems skeptisch zu sein. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat herausgefunden, dass zwar 70 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer glauben, dass digitale Methoden die Schule attraktiver machen. Dass diese Mittel allerdings zu einem besseren Lernerfolg führten, glaubt nur ein knappes Viertel. Die Bertelsmann-Stiftung erklärt zudem, dass nur etwa 15 Prozent der Lehrkräfte „versierte Nutzer“ digitaler Medien seien, nur acht Prozent aller Schulleiterinnen und Schulleiter würden ihnen zudem eine „strategische Bedeutung“ zumessen. Stattdessen hofften die meisten Lehrerinnen und Lehrer, dass die Digitalisierung bürokratisch entlastet. Sie wünschen sich schnellere, einfachere Prozesse.
Lehrer zeigen sich skeptisch gegenüber digitalen Lehrmitteln
Bildungs- und Mathe-Influencer springen hier in die Bresche, die sich dadurch auftut. Sie liefern digitale Lernmittel, allerdings auf verschiedenste Art: Während Daniel Jung eher sachlichen Frontalunterricht anbietet, wählt Johann Beurich ein anderes Medium, um komplexe Formeln zu vermitteln: Rap-Musik. Sei es der euklidische Algorithmus, die vedische Mathematik oder das Additionstheorem: Seit zehn Jahren rappt er unter dem Namen „DorFuchs“ Mathe-Songs, in denen er die schwierigsten Aufgaben auf einfache Art und Weise vertont. „Der Stoff von einem Schuljahr passt im Grunde auf eine Din-A4-Seite – oder eben in einen Song“, sagte er dem „Spiegel“. Sein Youtube-Format zählt pro Video Klicks im einstelligen Millionenbereich. Vor allem Abiturienten wolle er damit erreichen, sagte er dem Magazin.
Johann Beurich rappt den euklidischen Algorithmus
Im Vergleich zu Beurichs Raps sind die Videos von Branchenprimus Simple Club lauter und bunter. Oft sind sie im Comicstil oder beinhalten Pixelgrafiken. Eine Stimme erklärt das Thema in zielgruppengerechter Sprache: Da kommt man „gechillt“ zur Klausur und das Video startet mit einem „Moin Leute!“. Die Ansprache des Publikums erfolgt auf Augenhöhe, ebenso wie die Erklärungen und Eselsbrücken zu den besprochenen Inhalten. Komplizierte Inhalte sind Fehlanzeige, alles wird leicht und verständlich aufgearbeitet.
Mit diesen Prozessen haben auch Nicolai Schork und Alexander Giesecke Bekanntschaft gemacht. Die beiden Unternehmer haben Simple Club gegründet. Was heute eines der größten Lernportale Deutschland ist, startete vor über zehn Jahren als Youtube-Kanal, in denen die beiden Gründer in kurzen Videos aus ihrem Kleiderschrank Mathematik-Inhalte erklärten. Heute sind ihre Videos nur noch ein Nebenprodukt, der Fokus liegt bei Simple Club auf einer App, die nach eigener Aussage monatlich mehr als zwei Millionen Nutzende hat. Schülerinnen und Schüler können sich die App gratis herunterladen. Um aber auf alle Inhalte zugreifen zu können, ist eine Mitgliedschaft erforderlich, die 5,83 Euro bis 12,49 Euro im Monat kostet.
Schork und Giesecke sehen sich heute als Technologieunternehmer und haben mehr als 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an digitalen Lösungen für den Unterricht arbeiteten. „Wir wollen nicht die Schule ersetzen“, erklärt Schork unserer Redaktion. Stattdessen würden sie eine Alternative für Schulbücher schaffen wollen, die nicht nur beschriebene Seiten zur Verfügung stellt, sondern erklärende Inhalte, die jederzeit abgerufen werden können. Aus den bunten und comicartigen Videos ist eine ebenso bunte und auf die junge Zielgruppe abgestimmte Lern-App geworden.
KI-generierte Inhalte statt Frontalunterricht
Das grundlegende Konzept hat sich nicht verändert, sondern wurde erweitert. Es gibt Lernvideos, Übungsaufgaben, Karteikarten, Lernpläne oder einen Hausaufgaben-Chat zum Austauschen. Dumme Fragen gebe es nicht, Inhalte können per Künstlicher Intelligenz individualisiert werden, damit jeder Schüler und jede Schülerin die beste Lernerfahrung machen kann und optimal vorbereitet ist. Anstelle von Frontalunterricht werde so Platz für Projekte und individuellen Unterricht geschaffen.
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Zu den Hauptkunden von Simple Club zählen allerdings keine Schulen, sondern Unternehmen. „Wir kriegen immer wieder Feedback von Schülern, Schülerinnen und Lehrkräften, dass sie sich unsere Produkte im Unterricht wünschen“, ergänzt Alexander Giesecke. Die Schulen dürften die Lehrmittel aber nicht kaufen – dafür fehlten schlicht entsprechende Prozesse. Es sei schwer, in die Schulen zu kommen, weil die politischen Rahmenbedingungen nicht geschaffen würden. „Das Kernproblem ist, dass Bildung Ländersache ist.“
16 Bundesländer bedeuteten 16 verschiedene Systeme mit 16 verschiedenen Katalogen an Bedürfnissen. Diese müssten aus 16 verschiedenen Budgets bezahlt werden, die für traditionelle Schulbücher, aber nicht für digitale Lehrmittel da seien. Ein gordischer Knoten der Bildung also. Ob sich das bis zu nächsten Pisa-Studie ändere, bezweifeln alle Akteure im Gespräch. „Wir führen immer wieder die gleiche Diskussion“, sagt Daniel Jung. „Wir kommen aber nicht weiter. Dabei ist Bildung unser höchstes Gut. Wir sollten es maximal fördern.“
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