Berlin. Die erste Pisa-Studie nach der Pandemie lässt das deutsche Schulsystem durchfallen. Darunter leiden nicht nur sozial schwache Kinder.
Ob Mathematik, Lesen oder Naturwissenschaften: Die Leistungen der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind so schlecht wie nie. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Pisa-Schulstudie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Vor allem in Mathematik sind die Leistungen dramatisch abgesunken. Die Differenz ist laut Studie so groß wie der Lernfortschritt, den 15-Jährige normalerweise während eines ganzen Schuljahres erzielen.
Der Bildungserfolg ist demnach weiterhin stark vom Elternhaus abhängig: Der Abstand von Kindern aus bildungsfernen Familien zu begünstigen Schülerinnen und Schülern hat sich sogar leicht vergrößert. Besonders bemerkenswert ist, dass sich die Lesekompetenz im Vergleich zum Pisa-Schock des Jahres 2000 – damals kam die erste Studie mit einem verheerenden Ergebnis für Deutschland heraus – noch einmal zurückgegangen ist.
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Für den Kinderschutzbund sind die Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie ein weiterer Beweis dafür, dass die Benachteiligung von armen Kindern im deutschen Bildungswesen System hat. Deutschland schaffe es nach wie vor nicht, „das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung einzulösen“, sagte Sabine Andresen, Präsidentin des Kinderschutzbundes, dieser Redaktion. „Wir scheitern am eigenen Anspruch, allen Kindern gerechte Chancen zu bieten.“
Pisa-Studie: „Es muss mehr Geld an die Schulen fließen“
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert angesichts der desaströsen Pisa-Ergebnisse einen Masterplan gegen Bildungsarmut und soziale Ungerechtigkeit. Ziel müsse sein, die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler „ohne Wenn und Aber“ zu verbessern, sagte GEW-Vorstandsmitglied Anja Bensinger-Stolze. Die Politik müsse den Ausbau der Ganztagsschulen vorantreiben. „Es muss mehr Geld dahin fließen, wo es am dringendsten gebraucht wird: An die Schulen, in denen viele arme Kinder unterrichtet werden.“
Der Kinderschutzbund kommt zu dem Schluss, es sei offenbar nicht gelungen, die Defizite aus der Corona-Pandemie aufzuholen. Im Gegenteil: „Kinder stehen immer öfter vor verschlossenen Schultoren, weil Schulen weder personell noch infrastrukturell hinreichend ausgestattet sind“, sagte Präsidentin Sabine Andresen. Gerade diese schlechte Ausstattung von Schulen kritisiert auch die Bundesschülerkonferenz stark. Dabei seien Investitionen in die Schulgebäude entscheidend für eine erfolgreiche Schullaufbahn.
Schülervertreter: „Toiletten schimmeln, Gebäude sind einsturzgefährdet“
Tatsächlich aber „werden unsere Schulen kaputtgespart und haben mit einem Investitionsstau von 44 Milliarden Euro zu kämpfen“, sagt Florian Fabricius, Generalsekretär der Schülerorganisation, dieser Redaktion. „Decken sind verseucht, Toiletten schimmeln und Gebäude sind einsturzgefährdet.“ Das Ausstatten von Gebäuden klinge vielleicht banal, aber sie sei die Grundlage von fruchtbarem Lernen – und für Schüler absolut essenziell. „Wir fordern daher ein Förderprogramm von zehn Milliarden Euro zur Schulsanierung. Sofort.“
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Dass der Bildungserfolg nach wie vor abhängig vom Elternhaus ist, nennt der Schülersprecher „Geburtenlotterie“. Er fordert ein grundlegendes Umdenken in der Bildungspolitik, die Chancengerechtigkeit müsse an erste Stelle rücken. Fabricius bezieht sich auch auf „Startchancen-Programm“, das vom Bundesbildungsministerium im September dieses Jahres in die Wege geleitet wurde. Bund und Länder haben sich bereit erklärt, in den kommenden zehn Jahren mit 20 Milliarden Euro benachteiligte Schülerinnen und Schüler unterstützen. Das Programm sei zwar ein netter erster Schritt, so Fabricius, es reiche aber noch lange nicht aus.
Außerdem kritisiert der 18-jährige Abiturient, dass die mentale Gesundheit der Schülerinnen und Schüler viel zu selten im Fokus stehe. „Jeden Tag erlebe ich, wie viele meiner Mitschüler von Depressionen, Zukunftsängsten und Stress geplagt werden. Wir haben es mit einer Epidemie psychischer Krankheiten in unseren Schulen zu tun“, sagt Fabricius. Doch die Politik schaue zu. „Wir brauchen dringend mehr Schulpsychologen, mehr Stressprävention und weniger Leistungsdruck. Beim Thema mentale Gesundheit brauchen wir eine politische 180-Grad-Wende: Schule sollte ein Ort von Lernen und persönlicher Entfaltung, nicht von Angst und Stress sein.“
Was die Pisa-Studie zeigt: Es fehlt schon an frühkindlicher Bildung
Der Deutsche Lehrerverband setzt vor allem auf die frühkindliche Bildung. Der Schlüssel zu nachhaltigem Bildungserfolg seien schließlich die Grundkompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen, sagte Verbandspräsident Stefan Düll dieser Redaktion. Zudem gehe es um Identifikation mit der hiesigen Kultur – und dazu gehöre auch die Schulkultur. Spracherwerb sei Voraussetzung dafür, dass Kinder überhaupt in die Kultur hineinwachsen können.
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Düll kritisiert den wirtschaftsorientierten Ansatz der Pisa-Studie, der nicht den Blick verstellen dürfe auf die Bedeutung von musischen Fächern, die genau diese kulturellen Erfolgsfaktoren förderten. Sein Rezept für mehr Chancengleichheit im Schulsystem: Verpflichtende Vorschuljahre, Sprachstandtests in Kitas und gezielte Sprachförderung. Doch ohne eine genügende Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern ginge es nicht. Zusammen mit Schulpsychologen und Erziehern müssten sie mehr Zeit und Kompetenzen mitbringen, um Kinder besser sozial-emotional fördern zu können.
Wie Schülervertreter Fabricius fordert auch der Lehrerpräsident, die Schulgebäude gut auszustatten für eine konzentrations- und wertschätzende Umgebung mit kleinen Klassen und Lerngruppen. Es gehe „in so einem reichen Land“ schließlich auf das Anrecht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung, bringt es Kinderschutz-Präsidentin Sabine Andresen auf den Punkt. „Dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen politisch so wenig Priorität besitzen, ist ein Armutszeugnis.“
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