Giessen. Pisa legt offen: Der Mathematik-Unterricht kommt an die Jugendlichen nicht mehr heran. Das Mathematikum in Gießen schon. Ein Besuch.
Textaufgaben, Lehrbücher, Formeln. Lehrkräfte rechnen an der Tafel vor, die Klasse schreibt ab. Was auch schon vor 30 Jahren nur leidlich funktionierte, verliert mehr und mehr den Bezug zur Lebenswirklichkeit. Mathe? Wozu soll das gut sein, sagen offenbar – so die Ergebnisse der jüngsten Pisa-Studie – immer mehr Schülerinnen und Schüler. Und wurschteln sich durch. Die Folge: 15-jährige Jugendliche haben im Vergleich zum Jahr 2018 ein Jahr verloren. Der Anteil derjenigen, die mit einfachsten Aufgaben nicht klarkommen, wächst. Viele könnten noch nicht einmal Preise im Supermarkt vergleichen, stellt ein Autor der Studie fest.
Für Albrecht Beutelspacher entgeht ihnen damit das große Abenteuer Mathematik: Durch eigenes Denken Erkenntnisse erzielen, durch Grübeln die Welt der Zahlen und Formen erforschen. „Denken und Mathe – da meinen viele, das sind zwei verschiedene Dinge“, sagt der Mathematik-Professor. Vor 21 Jahren hat er das Mathematikum in Gießen gegründet, ein Mitmach-Museum. Dort können junge Besucherinnen und Besucher die Welt der Zahlen und Formen anfassen, damit spielen, knobeln, experimentieren. Wie müssen zwei Vielecke aneinandergelegt werden, damit daraus eine Pyramide wird? Welche Murmel schafft die Kugelbahn schneller: die mit dem kürzeren Weg oder die mit mehr Schwung? Und vor allem: Warum ist das so? Die Kinder raten, probieren aus – und begreifen, dass unsere Welt voller Mathematik ist.
Lesen Sie auch:Pisa-Schock 2.0 - Jetzt braucht es einen Ruck
Ob Archimedes, Pythagoras oder Euklid: „Mit Mathematik haben sich die größten philosophischen Geister der Antike beschäftigt – mit unglaublichen Gedanken und unglaublichen Ideen“, sagt Beutelspacher. Von dieser Inspiration seien im Unterricht nur noch die formelhaften Anwendungen übrig, sagt der Professor und zählt auf: schriftliche Addition/Subtraktion/Multiplikation, Bruchrechnen, Prozentrechnen, Kurvendiskussion. „Man hat überall algorithmische Verfahren, die man einfach abspulen muss.“ Welche Kraft des Denkens hinter diesen Verfahren stecke – „da kommen die Schülerinnen und Schüler oft nicht dahinter“.
Schule im Museum: So wird eine Milliarde begreifbar
Wenn sie ins Mathematikum kommen, tauchen die meisten von ihnen schnell ab in die Welt der Versuche. So wie Florian, 12. Er will mit einem Wollfaden auf einer Deutschlandkarte alle Hauptstädte der Bundesländer verbinden. Immer wieder scheitert er, denn der Faden ist zu kurz – bis er den effizientesten Weg findet. Nina, 10, steht vor einer Glastrommel, die mit einer Million Glasperlen gefüllt ist, alle so klein wie Stecknadelköpfe. Nur eine ist schwarz und die soll sie finden. Sie dreht die Trommel, die Masse setzt sich in Bewegung. Die schwarze Perle sieht sie nicht, aber welche gigantische Zahl eine Million ist – das hat sie schnell begriffen.
„Wie wir uns große Zahlen vorstellen, ist eine wichtige Frage“, erklärt Beutelspacher. In Glastrommeln ausgedrückt: Es wären 1000 nötig, um eine Milliarde darzustellen. Man stelle sich vor, jede Perle dieser 1000 mal eine Millionen Perlen wäre ein Herzschlag. Es bräuchte dreißig Lebensjahre, um sie aufzubrauchen. „Mein Herz hat über zwei Milliarden Mal geschlagen“, sagt der über 60-jährige Professor, der alle Experimente selbst erfindet. Produziert werden sie in einer eigenen Schreinerei – und auch repariert. Schließlich gehen die Holzklötze, die Lichtversuche, die all die bunten Holzscheiben, geometrischen Formen, Kugeln, mit denen die Formeln im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar gemacht werden, durch viele Hände – und das nutzt sie ab. „Kaputt gemacht wird aber wenig“, sagt Beutelspacher.
Pi, oder die Schönheit der unendlichen Zahl
Dafür sind die Experimente und deren Präsentationen auch viel zu schön. Etwa die Zahl Pi, die das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser angibt. Als Dezimalzahl nähert sie sich der 3,14 an, die Nachkommastellen sind aber unendlich. Und in dieser Unbegrenztheit kreist sie in einer Schlange über eine große weiße Wand, verliert sich schließlich in der Endlosigkeit. Ein Kunstwerk, das den Atem stocken lässt.
Mehr zum Thema:Pisa-Schock: Die drei wichtigsten Lehren für die Schulen
Tatsächlich bleiben auch jüngere Kinder davor stehen und staunen, aber erst recht die älteren, so wie die Klasse von Eveline Zwenger (32), einer Lehrerin für Chemie und Latein aus dem Ort Karbach im Landkreis Main-Spessart. Ob so ein Wandertag in ein Mathematik-Museum nicht langweilig sei für 15-jährige? Zwenger wischt die Bedenken beiseite. Tatsächlich zerstreut sich die Klasse über die drei Etagen. Einzeln oder in kleinen Gruppen suchen sie sich ihre Experimente.
Das gibt der Lehrerin Zeit, selbst zu knobeln. Sie versucht sich an einer komplexen Version des Spiels „das ist das Haus vom Nikolaus“ – also einem Problem aus der Graphentheorie, die die Menge von Knoten und Kanten sowie ihre Beziehung zueinander behandelt. Ob Navigationsgeräte, Routenplaner oder neuronale Netze für die KI – Graphen begegnen uns im Alltag ständig. Eveline Zwenger ist dabei, mit einem Faden die vielen Strecken auf einem Nagelbrett zu verbinden, ohne doppelte oder ausgelassene Wege. Nach drei erfolglosen Versuchen hält sie inne. Sucht die Lösung im Kopf – und dann klappt es. Sie hat den Weg gefunden, den die Mathematik „Eulerscher Kantenzug“ nennt.
Dass auch die Lehrkräfte sich vertiefen, ist durchaus gewollt, sagt Beutelspacher. Das Haus sei voller Kommunikation, man rede miteinander, mitunter werde es auch laut, doch irgendwann gebe es ein Erfolgserlebnis, „und das genießen auch die Lehrer“. Es sei das gute Gefühl, einen Würfel zusammengesetzt oder eine Brücke gebaut zu haben, etwa nach dem System von Leonardo da Vinci. Das könne jeder sehen, „das ist mehr wert als ein abstrakter Punkt für die Leistung oder ein Haken“.
„In der Schule war Mathe mein Lieblingsfach. Nun fällt mir zu jeder Aufgabe ein Experiment ein“
Oscar Crome ist jeden Tag im Mathematikum. Erst im Frühjahr hat der 18-jährige sein Abitur gemacht, nun absolviert er ein freiwilliges kulturelles Jahr im Museum. Er gibt kleine Einführungen, bevor die Schüler selbst das Museum erkunden. „Mathe war immer mein Lieblingsfach“, sagt er. Nun habe er die Gelegenheit, in die tiefere Mathematik einzusteigen – „und dabei fällt mir immer ein Exponat aus dem Museum ein“.
Mehr zum Thema:Keine Noten, keine Ferien: Dresdner Schule begeistert
Ein mathematisches Modell zu begreifen und dann Aufgaben zu lösen: Dieser Gedanke steckt auch hinter der Entstehungsgeschichte des Museums. Albrecht Beutelspacher, der in seinem früheren Leben an der Universität Gießen Mathematiklehrer ausbildete, ließ seine Studenten Modelle herstellen und sie erklären. „Die Begeisterung war groß“, erinnert er sich, „wir merkten, das müssen wir größer machen“. Inzwischen haben 2,5 Millionen Menschen das Mathematikum besucht. Subventionen bekommt das Museum nicht, der Betrieb finanziert sich durch Sponsoren, Eintrittsgelder, Wanderausstellungen und auch den Verkauf der Exponate. „Sogar aus China kommen Bestellungen“, sagt Beutelspacher.
Ob Kita-Gruppe oder Leistungskurs: Exponate gibt es für jedes Niveau. Gerade auf die älteren Schüler ist Beutelspacher stolz: „Bis vor ein paar Jahren sagten sie, das Mathematikum sei was für Kinder. Jetzt kommen sie, weil sie was verstehen wollen“. Im Idealfall hätten sie begriffen, welchen Stellenwert Mathematik im Alltag hat.
In den Schulunterricht fließen inzwischen immer öfter die Experimente ein
Ohne Mathe gäbe es kein Navigationssystem, kein Smartphone, keine Bildbearbeitung. „Das ist alles analytische Geometrie“, sagt er. Und wer durchs Museum geht, begreift den Zusammenhang mit der Philosophie, der Kunst, der Musik. Ob es ums Notensystem geht, den Aufbau eines Bildes, der Bau von Instrumenten – „Mathematik ist die Grundlage für alles“.
Ob dieser ganzheitliche Blick auf die Mathematik Einfluss auf das Einfluss auf das Curriculum habe, also den inhaltlichen Ablauf des Unterrichts an Schulen und Universitäten? „Nicht in einer formalen Weise“, schränkt Beutelspacher ein. Aber immer öfter werde mit Experimenten gearbeitet, es gebe eigene Matheräume, Schulen organisierten Mathenächte und Projekte. „Da hatte das Mathematikum sicher Einfluss“.
Die Frage, ob denn jeder Mathematik könne, wenn man es nur richtig beibringe, erklärt der Professor mit einer Gauß-Kurve: „Die meisten können es ganz gut, nur wenig sind spitze, nur wenige tun sich wirklich schwer.“
Auch interessant: Pisa-Studie – Schüler wütend über diese drei Probleme