Berlin. In Deutschland fehlen Lehrer. Trotzdem brechen viele Studierende und Referendare ab. Was ihre Gründe sind – und was ihnen helfen würde.
Biologie und Deutsch, diese Fächer wollte Rebecca L. eigentlich am Gymnasium unterrichten. 2017 hat sie ihr Lehramtsstudium begonnen. Lehrerin, das habe sie schon immer werden wollen. Es sei ihr Traumberuf gewesen, erzählt sie – bis sie die „bittere Realität“ gesehen habe. Schon während der ersten Studienjahre seien ihr manchmal Zweifel gekommen, aber das positive Feedback und die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern hätten diese immer wieder aus dem Weg geräumt. Also machte die 29-Jährige ihr erstes Staatsexamen.
Doch dann kam der finale Teil der Ausbildung, das Referendariat – und mit ihm waren die Zweifel zurück. Durch Freundinnen und Freunde habe sie schon immer mitbekommen, wie unglaublich anstrengend diese Zeit sei. Zusätzlich zum Stressfaktor seien dann noch die niedrige Bezahlung im Referendariat und die Aussicht auf eine hohe Belastung im Beruf gekommen. „Ich habe Freundinnen und Freunde, die beim Lehramt geblieben sind, die jeden Abend bis 23 Uhr Unterlagen vorbereiten“, sagt Rebecca.
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Als sie dann auch noch nur einen Platz rund 350 Kilometer von ihrem Wohnort Kassel entfernt erhielt, stand ihre Entscheidung fest. „Plötzlich haben all die negativen Punkte überwogen“, erinnert sie sich. Also sagte die 29-Jährige ab. Heute arbeitet sie in einem anderen Bereich. Bereut hat sie die Entscheidung gegen das Lehramt nicht. Im Gegenteil: Es sei die beste Entscheidung gewesen, die sie dieses Jahr getroffen habe, sagt sie.
Bis 2025 könnten mindestens 25.000 Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland fehlen
In den kommenden Wochen starten die ersten Bundesländer in das neue Schuljahr. Schon jetzt sind Tausende Stellen für Lehrkräfte unbesetzt und die Aussichten sind schlecht: Bis 2025 könnten laut Kultusministerkonferenz rund 25.000 Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland fehlen – andere Schätzungen gehen von noch höheren Zahlen aus. Umso wichtiger wäre ein großer Nachwuchs an Lehrkräften. Genau wie Rebecca brechen allerdings zahlreiche angehende Lehrkräfte das Studium ab.
Laut einer aktuellen Studie des Stifterverbands haben in den vergangenen Jahren von rund 52.500 jungen Menschen, die durchschnittlich pro Jahr ein Lehramtsstudium beginnen, nur 28.300 das Referendariat beendet. Das heißt: Etwas weniger als die Hälfte der Studierenden brach entweder im Laufe des Studiums oder im Referendariat die Ausbildung ab. Den größten Schwund gab es dabei in den ersten Studienjahren – in dieser Zeit entschieden sich durchschnittlich 20.000 Studierende gegen eine Fortsetzung der Ausbildung.
Das Fazit des Stifterverbands: Selbst, wenn alle Personen, die ein Lehramtsstudium beginnen, am Ende auch unterrichten würden, könnte der Bedarf an Lehrkräften nicht gedeckt werden. Theoretisch müssten also nicht nur deutlich mehr Studierende einen Abschluss machen, sondern auch deutlich mehr Personen überhaupt ein Studium beginnen. Doch wodurch entsteht diese Lücke?
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Lehrkräftemangel: Das Lehramt leidet unter Image-Problemen
Zum einen gibt es dafür demografische Ursachen. „Grundsätzlich ist es so, dass wir aktuell zu wenig junge Menschen haben für viel mehr zur Verfügung stehende Ausbildungsplätze, für Studienplätze und weitere berufliche Tätigkeiten“, sagt die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands, Susanne Lin-Klitzing. Das betreffe nicht nur das Lehramt, sondern fast alle Bereiche. Daneben spielen aber auch andere Gründe eine Rolle, etwa das schlechter werdende Image des Berufs. „In der letzten Zeit wird immer deutlicher, dass das ein Beruf ist, der anstrengend und hoch belastend ist“, erklärt Lin-Klitzing.
Neben der eigentlichen Tätigkeit, nämlich dem Unterrichten, hätten Lehrkräfte mittlerweile zahlreiche andere Aufgaben zu erledigen, für die sie häufig gar nicht ausgebildet seien. Hinzu kommen ein sowieso schon hohes Arbeitspensum und nicht immer gute Arbeitsbedingungen. Man müsse allerdings aufpassen, dass der Job nicht zu sehr schlechtgeredet werde, warnt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Stefan Düll: „Das ist ein klassisches Dilemma: Man stellt Forderungen auf, um Arbeitsbedingen zu verbessern und dadurch entsteht dann der Eindruck, dass alles schlechter ist, obwohl Lehramt ein sehr schöner Beruf ist.“
Seiner Meinung nach ist auch die sich wandelnden Vorstellung von Arbeit ein Grund dafür, dass sich nicht genug junge Menschen für den Beruf entscheiden. „Es ist so, dass junge Menschen heute sehr viele verschiedene Möglichkeiten haben – und auch eine andere Sicherheit im Hinblick auf ihre Perspektiven“, sagt Düll. Früher sei beispielsweise der Beamtenstatus ein großes Plus des Lehramts gewesen – heute spiele das ein deutlich kleinere Rolle. Dafür sei das Thema Homeoffice wichtig. „Unterrichten, das hat uns Corona gezeigt, funktioniert allerdings nicht aus dem Homeoffice. Um wirklich gute Arbeit leisten zu können, muss man den Schülerinnen und Schülern direkt begegnen“, erläutert Düll.
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Fehlender Praxisbezug und fehlende Identifikation mit Studium und Job
Dass so viele Menschen ein Lehramtsstudium abbrechen, liegt laut den Verbänden auch daran, dass bis auf Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen alle Bundesländer das Studium mittlerweile vom Staatsexamen auf ein Bachelor-Master-System umgestellt haben. „Ich halte das für eine grundlegende Fehlorientierung“, sagt Philologenverbands-Vorsitzende Lin-Klitzing. Das Bachelor-Master-System sei darauf ausgelegt, dass sich Studierende nicht am Anfang des Studiums auf einen Beruf festlegen müssten, sondern sich auch danach noch umorientieren könnten. Das führe auch dazu, dass die Studierenden nicht unbedingt beim Lehramt bleiben würden.
Aus der Sicht von Bildungsforscher Ulrich Heublein gibt es im Lehramtsstudium – neben allgemeinen Gründen, die in allen Fächern vorhanden seien – vor allem zwei Ursachen für Abbrüche: Zum einen eine fehlende Identifikation mit dem Studium und damit auch dem Beruf, ausgelöst dadurch, dass Lehramtsstudierende oftmals drei unterschiedliche Fachbereiche studieren würden und so kein Zugehörigkeitsgefühl entstehen könne. Und zum anderen ein fehlender Praxisbezug.
„In keiner anderen Studienrichtung spielt dieses Thema eine so große Rolle wie im Lehramt“, sagt der Leiter des Projekts „Studienabbruch“ am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Wenn junge Menschen Zweifel daran hätten, dass sie an der Universität die notwendigen Fähigkeiten für den Berufsalltag erlernen würden, trage das stark dazu bei, dass sie das Studium abbrechen würden, so Heublein. Dieses Problem müsse das Lehramt dringend angehen.
Philologenverbands-Vorsitzende Lin-Klitzing sieht Forderungen nach einer früheren Praxisorientierung allerdings kritisch. So gebe man sich der Illusion hin, „dass man den sogenannten Praxisschock abmindern könne.“ In einem Praktikum sei es allerdings kaum möglich, die Realität des Berufs zu erleben. Zudem würde mehr Praxis auch zu weniger fachlichen Kompetenzen führen, so die Professorin. Das gelte auch für das Grundschullehramt. „Neben einer hohen pädagogische Kompetenz müssen hohe inhaltliche Kompetenzen vorhanden sein.“
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Kultusministerkonferenz will Lehramtsstudium weiterentwickeln
Laut Stifterverband entschließen sich jedes Jahr – genau wie Rebecca – durchschnittlich etwa 2000 Studierende, das Referendariat, also die finale Phase der Ausbildung, gar nicht erst zu beginnen oder nicht zu beenden. Als Grund dafür wird oftmals der sogenannte „Praxisschock“ genannt, also die erstmalige Konfrontation mit der tatsächlichen Arbeit in der Schule. Damit steht das Lehramt nicht alleine da, die Belastung im Referendariat steigt allerdings zunehmend.
Das liege unter anderem daran, dass das Referendariat in vielen Bundesländern eingekürzt worden sei, sagt Lin-Klitzing. Die angehenden Lehrkräfte müssten allerdings auch in der kürzeren Zeit genauso viel leisten. Während eine Dauer von zwei Jahren früher der Standard gewesen sei, sind es mittlerweile oftmals nur noch 18, in zwei Bundesländern sogar nur 12 Monate. „Wenn Studierende mitbekommen, dass die anschließende Praxisphase, das Referendariat, zunehmend gekürzt wird, dann ist das abschreckend“, sagt Lin-Klitzing.
Um den Lehrkräftemangel zu bekämpfen und Studium sowie Job wieder attraktiver zu machen, hat die Kultusministerkonferenz im März einen Maßnahmenkatalog beschlossen. Darin ist unter anderem auch eine bedarfsbezogene Weiterentwicklung des Studiums vorgesehen. Auch einige Bundesländer haben bereits Maßnahmen ergriffen. So will beispielsweise Baden-Württemberg ab dem kommenden Jahr testweise eine dualen Masterstudiengang für das Lehramt einführen. Laut Lehrerverbands-Präsident Düll könnten außerdem bessere Aufstiegschancen helfen, den Job von vornherein wieder attraktiver zu machen. Das sei bisher nicht in jedem Bundesland und bei jeder Schulart gegeben. „Außerdem brauchen wir an allen Schulen wirklich gute Arbeitsbedingungen, und auch das ist eben nicht immer der Fall“, so Düll. Rebecca hingegen würde heute wahrscheinlich nicht mehr Lehramt studieren, sagt sie – zumindest nicht mit dem Ziel, Lehrerin zu werden.