Brüssel/Berlin. Sollte Russland die Ukraine besiegen, wächst die Gefahr einer weiteren Invasion – womöglich in Osteuropa. Die Nato probt den Ernstfall.
Nicht nur in Deutschland wächst die Sorge, dass Russlands Präsident Wladimir Putin einen Überfall auch auf Nato-Gebiet planen könnte. Nun reagiert das Verteidigungsbündnis. Ab Februar plant die Allianz das größte Manöver seit Ende des Kalten Krieges: Rund 90.000 Soldaten beteiligen sich an der Übung „Steadfast Defender 2024“ – allein 12.000 Soldaten aus Deutschland. Dazu kommen 50 Kriegsschiffe, Hunderte Kampfjets und drei Flugzeugträger-Gruppen der USA. Das Signal soll deutlich sein.
Manöverschwerpunkte werden Deutschland, Polen und das Baltikum sein, der Übungsraum reicht aber von Norwegen bis nach Rumänien. Ziel ist es, die schnelle Mobilisierung zu trainieren – in einem erschreckenden Szenario, mit dem die Nato anders als bisher ganz offen einen Angriff von Russland und Belarus gegen ein Mitglied des Bündnisses durchspielt.
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Der Gedanke dahinter: Sollte Russland die Ukraine besiegen, bestehe die Gefahr, dass Putin auch einen Angriff auf ein Nato-Land riskiert – am ehesten auf die drei baltischen Staaten, die wie die Ukraine einst zur Sowjetunion gehörten. US-Präsident Joe Biden warnt vor dieser Gefahr ebenso wie Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Putins Drohungen gegen baltische Staaten müsse man ernst nehmen, das sei nicht bloßes Säbelrasseln, mahnt Pistorius: Ende des Jahrzehnts könnten „Gefahren auf uns zukommen“.
Putin weist Spekulationen um einen Angriff auf Nato-Gebiet zurück
Planer im Bundesverteidigungsministerium gehen sogar einen Schritt weiter und spielen jetzt vertraulich ein Eskalationsszenario durch, bei dem Nato und Russland schon 2025 unmittelbar vor einem Krieg stehen könnten. Demnach würde Putin nach einer erfolgreichen Offensive in der Ukraine im Lauf dieses Jahres Panzerverbände und Soldaten in Belarus und Kaliningrad aufmarschieren lassen und dann mit hybriden Angriffen Gewalt und Chaos in Estland, Lettland und Litauen provozieren.
Schließlich könnte er einen Grenzkonflikt in der Suwalki-Lücke zwischen Baltikum und Polen inszenieren – und die Nato müsste 300.000 Soldaten zum Schutz der Ostflanke mobilisieren. Ausgang offen. Präsident Putin weist alle Warnungen vor einem Angriff auf die Nato als „völligen Blödsinn“ zurück. Im russischen Staatsfernsehen versicherte er kürzlich, Russland habe „keinen Grund, kein Interesse, kein geopolitisches Interesse, weder wirtschaftlich, politisch noch militärisch, mit Nato-Ländern zu kämpfen“.
Abgesehen vom Risiko eines Atomkrieges: Derzeit hätte Russland wohl auch kaum die militärischen Mittel, um einen solchen Konflikt mit der Nato durchstehen zu können. Die längerfristige Perspektive scheint bedrohlicher: Nato-Militärs sind nach gründlicher Analyse tief besorgt, dass nach einem Ende des Ukraine-Krieges die Gefahr für den Westen massiv zunehmen könnte: Russland bleibe „eine gewaltige und unkalkulierbare Bedrohung“, sagt Nato-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli, ein amerikanischer Vier-Sterne-General, der im belgischen Mons das Supreme Headquarters Allied Powers Europe (Shape) führt.
Experte: Russland könnte in Ukraine wertvolle Erfahrungen sammeln
Zwar erleide die Armee in der Ukraine massive Verluste an Soldaten und Ausrüstung. Doch die strategischen Streitkräfte Russlands hätten keine nennenswerte Verschlechterung erlitten, Luftwaffe und Marine seien weitgehend intakt, die Armee werde sich erholen. Und die Militärführung habe in der Ukraine wertvolle Erfahrungen mit einem modernen, konventionellen Krieg gesammelt. „Sie werden ihre Lektionen schnell lernen. Wir sollten sie niemals unterschätzen“, sagt ein ranghoher Nato-General. Der riesige Bestand an Atomwaffen in Russland bleibe ohnehin eine „existenzielle Bedrohung“, Putins gefährliche Nuklearrhetorik führe zu strategischer Unsicherheit.
Die große Sorge im Bündnis: Binnen fünf Jahren nach Kriegsende könne ein aggressives Russland die Armee nicht nur auf den alten Stand bringen, sondern sogar zu einer größeren und leistungsfähigeren Streitmacht ausbauen. Dazu gehöre ein Modernisierungsprogramm mit neuen Technologien, das dem Westen Sorgen machen müsse, warnt Cavoli – von der Hyperschall-Gleitwaffe Avangard, die Atombomben mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit und unberechenbarem Kurs ins Ziel trägt, bis zur atomgetriebenen Unterwasser-Drohne Poseidon, die radioaktive Tsunamis auslösen könnte.
Militäranalysten fürchten, allein die Drohung mit neuen Waffen wie Poseidon könne den Westen erpressbar machen. Längst hat die Nato deshalb ein neues Abschreckungs- und Verteidigungskonzept beschlossen: Wie im Kalten Krieg will die Allianz in der Lage sein, einen Angreifer sofort zurückzuschlagen, wozu 300.000 Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft gehalten werden sollen; 100.000 Soldaten müssen binnen zehn Tagen an die Front verlegt werden können. Dazu werden den Truppenverbänden der Nato-Staaten wieder konkrete Einsatzszenarien und -regionen zugeordnet.
Nato fürchtet Invasion aus Russland: So könnte ein Szenario aussehen
Das bevorstehende Großmanöver ist Baustein dieses Konzepts: Angenommen wird eine russische Invasion über die Suwalki-Lücke zwischen Polen und Litauen. Über diesen Korridor würden Putins Truppen nach Polen vorrücken. Die Nato würde ihre Eingreifkräfte aktivieren, zum Höhepunkt der Übung Anfang März erreichen dann Nato-Soldaten aus zwei Stoßrichtungen die Weichsel in Polen. Aus Deutschland werden alle drei Divisionen des Heeres beteiligt, zudem Marine und Luftwaffe, mehr als 12.000 Soldaten insgesamt. Deutschland werde eine „riesige Drehscheibe für die erforderlichen Truppenaufmärsche“ auch der Nato-Partner, kündigt das Verteidigungsministerium in Berlin an.
Die massive Präsenz von Panzern und Soldaten in der Öffentlichkeit würde nach innen die „Zeitenwende“ sichtbar machen, Alarmbereitschaft und Verlegung seien auch ein Beitrag zur Abschreckung, heißt es im Verteidigungsministerium. Aber der Nachholbedarf, von dem Boris Pistorius mit Blick auf die womöglich wachsende russische Bedrohung spricht, bleibt groß. „Kriegstüchtig“ müsse Deutschland werden, fordert der SPD-Politiker. Bis Russland aufgerüstet habe, meint Pistorius, hätten Deutschland und seine Verbündeten „ungefähr fünf bis acht Jahre, in denen wir aufholen müssen“.
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