Berlin/Brüssel. Ein Tabu bröckelt: Die Politik debattiert jetzt über eine eigene Atom-Abschreckung der EU. Welche Rolle soll die Bundesrepublik dabei spielen?
In Deutschland fällt mit dem Ukraine-Krieg ein letztes sicherheitspolitisches Tabu: Brauchen wir eine atomare Aufrüstung, eine europäische Atombombe? Der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), CSU-Vize Manfred Weber, spricht jetzt Klartext: „Letztlich braucht die EU dauerhaft eine nukleare Abschreckung – innerhalb und ergänzend zur Nato“, sagte Weber unserer Redaktion. Deutschland und andere EU-Staaten müssten endlich das französische Angebot annehmen und über einen möglichen Schutz durch den französischen Nuklearschirm sprechen.
Das Ziel: „Die europäischen Staaten müssen schnellstmöglich selbst verteidigungsfähig werden.“ Weber steht mit der Forderung nicht allein. Ex-Außenminister Joschka Fischer und der Politikwissenschaftler Herfried Münkler fordern ebenfalls eine eigene atomare Abschreckung der EU. Was steckt dahinter? Wie realistisch ist die europäische Atom-Aufrüstung?
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Europäische Union: Was steckt hinter der Atomwaffen-Forderung?
Umfragen zufolge steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Donald Trump Ende 2024 die US-Präsidentschaftswahlen gewinnt. Die Befürchtung: In einer zweiten Amtszeit könnte er den schützenden Atomschirm der USA über Europa wegziehen. Trump hatte den Austritt aus der Nato schon einmal fast erklärt, als es 2018 in geheimer Sitzung der Nato-Regierungschefs in Brüssel zum Eklat um die Lastenteilung kam. Deutschland und Europa sind, von Frankreich und Großbritannien abgesehen, nur wirksam geschützt durch die Bereitschaft der USA, zur Verteidigung der Nato-Partner auch Atomwaffen einzusetzen. Nur mit dieser Abschreckung ist das Risiko für einen möglichen Gegner, vor allem also Russland, unkalkulierbar groß, dass ein Einmarsch etwa ins kleine Estland zum alles vernichtenden Weltkrieg eskalieren könnte.
Das Ende des Schutzschirms könnte Trump im offenen Bruch mit der Nato inszenieren – oder schleichend, indem Washington die Schutzgarantien zumindest in Frage stellt. „Wenn wir ehrlich sind, sind wir heute nur im Nato-Verbund und dank des starken US-Engagements verteidigungsfähig“, warnt EVP-Chef Weber. „Wir setzen auf ein enges Miteinander mit den USA in der Nato, müssen uns aber auch für andere Szenarien nach der nächsten US-Präsidentschaftswahl vorbereiten.“
Das ist besonders brisant, weil Russlands Präsident Wladimir Putin im Ukraine-Krieg ein Tabu bricht und offen mit der Atombombe droht. Putins Überfall auf die Ukraine, die 1994 ihre Atomwaffen für wertlose Schutzgarantien zerstörte, ist vielen aufstrebenden Mächten eine Lehre: Am Ende schützt nur das eigene Nukleardepot – es erlaubt zugleich Angriffe auf Nicht-Atommächte. Sicherheitsexperten rechnen daher als Konsequenz aus dem Ukraine-Krieg mit einer weltweiten Atom-Aufrüstung.
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Wie funktioniert der atomare US-Schutzschirm?
Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die USA den Großteil ihrer 7000 Atomwaffen aus Europa abgezogen, die Abschreckung wird aber durch ihre strategischen Langstreckenraketen sowie Atomwaffen etwa auf U-Booten aufrechterhalten. Außerdem lagern die USA etwa 180 Atombomben vom Typ B-61 in Europa. Etwa 20 davon befinden sich in Deutschland, einsatzbereit in unterirdischen Bunkern des Bundeswehr-Fliegerhorstes Büchel in Rheinland-Pfalz, weitere Depots liegen in Belgien, den Niederlanden, Italien und der Türkei. Die Atomwaffen in Deutschland würden im Ernstfall von Tornado-Kampfjets der Bundeswehr ins Zielgebiet geflogen und abgeworfen. Mit dieser „nuklearen Teilhabe“ sollen die Nato-Staaten ohne eigene Atom-Bewaffnung in die Zielplanung durch die Allianz einbezogen werden.
Wie viele Atombomben haben Europas Nato-Länder?
Frankreich besitzt etwa 300 Atomsprengköpfe für U-Boote und für Kampfbomber. Großbritannien hat ein System mit etwa 120 Raketen, die von vier U-Booten abgeschossen werden können. Gemessen an den 5900 Atomsprengköpfen Russlands und den 5200 der USA sind beide Arsenale klein – sie könnten zur Abschreckung reichen, für einen großen Atomkrieg wohl nicht. Paris und London verfolgen eine rein nationale Atomstrategie, in der der Schutz von Verbündeten keine Rolle spielt.
Muss Deutschland selbst Atommacht werden?
Das gilt unter Fachleuten als kaum realistisch: Es wäre militärtechnisch ambitioniert, es würde hohe Milliarden-Investitionen erfordern, ist politisch kaum durchsetzbar – und würde selbst unsere EU-Nachbarn irritieren. Die Bundesrepublik hat sich im Atomwaffen-Sperrvertrag zum Verzicht auf Atombomben verpflichtet.
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Wie könnte eine europäische Lösung aussehen?
Im Raum steht ein Angebot von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, mit Berlin über die nukleare Abschreckung zu reden, ernsthafte Gespräche gibt es bisher aber nicht. Das will EVP-Chef Weber ändern. Wenn das französische Angebot angenommen würde, seien keine neuen Atomwaffen nötig, um der EU eine nukleare Abschreckung zu verschaffen. Allerdings gibt es bislang ein Problem: Die Mitsprache Deutschlands hätte nach jetzigem Stand enge Grenzen, im Ernstfall würde der französische Präsident allein über den Einsatz von Atombomben entscheiden. Noch ist es unter Sicherheitsexperten auch ungewiss, ob Frankreich für einen Verbündeten das nukleare Risiko eingehen würde – das ist aber Kern der Abschreckung.
Ob Frankreich die Bombe wirklich benutze, um Litauen oder Polen zu schützen, sei aus Sicht des Kreml zu bezweifeln, meint der Politikwissenschaftler Münkler. Daher fordert er jetzt, die Europäer müssten sich zusammentun und eine gemeinsame Atommacht bilden. „Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert“, sagte Münkler dem „Stern“. Es sei längst eine Aufrüstungsspirale in Gang, der sich Europa nicht entziehen könne.
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Wie realistisch ist die europäische Lösung?
Unklar. Für die Kooperation mit Frankreich bräuchte es erstmal ernsthafte Gespräche – und politische Bewegung in Paris. Eine große europäische Lösung, wie sie Münkler vorschwebt, wäre nach seinen Worten dagegen „eher ein Projekt für die nächsten 20 Jahre“. Nicht nur wegen dieser Zeitperspektive gibt es Widerspruch. Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sagte unserer Redaktion: „Die EU benötigt keine eigenen Atomwaffen – sie hat ja nicht einmal eigene Streitkräfte.“ Die EU brauche aber dringend eine gemeinsame, abgestimmte Verteidigungspolitik. „Dazu bedarf es eines EU-Verteidigungskommissars, der eine koordinierte Zusammenarbeit und auch eine gemeinsame Beschaffung organisiert“.
Der Sicherheitsexperte Karl-Heinz Kamp von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) warnt: „Die wiederkehrende Mär einer gemeinsamen europäischen Nuklearstreitmacht im Rahmen der EU hat keinerlei Chance auf Realisierung.“ Gerade nach dem Ukraine-Krieg sei die Vorstellung eines sicherheitspolitisch autonomen Europas endgültig vom Tisch. Die nukleare Abschreckung liege eindeutig bei der NATO – und sie werde weiter vor allem von den USA bereitgestellt.
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