Berlin. 100 Milliarden Euro sollten in die Bundeswehr fließen. Doch bereits jetzt macht sich Ernüchterung breit. Die Kritik wird lauter.

Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022 vor das Rednerpult des Bundestages trat, hörte ihm die ganze Welt zu. Es war drei Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Scholz sprach ruhig und ernst. Er pointierte für seine Verhältnisse ungewöhnlich deutlich, die Regierungserklärung hatte Gravitas.

„Wir erleben eine Zeitenwende“, sagte der Kanzler. „Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“ In vielen Hauptstädten rieb man sich die Augen, der britische „Guardian“ attestierte der deutschen Politik eine „Kurskorrektur um 180 Grad“.

„Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen“

Scholz sprach von einem Umbruch, der vermeintliche Gewissheiten erschüttert. Zum Beispiel die, dass ein groß angelegter Angriffskrieg in Europa undenkbar sei. Jetzt müsse die Bundeswehr modernisiert werden, mahnte der Kanzler: „Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind.“

Er kündigte ein Sondervermögen der Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro an. „Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen“, betonte Scholz. „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“

An der Umsetzung der „Zeitenwende“ gibt es zum Teil harte Kritik

Doch sind die hochfliegenden Pläne des Kanzlers in der Realität angekommen? An der Umsetzung der „Zeitenwende“ gibt es zum Teil harte Kritik. Insbesondere mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine wird der Ton schärfer. So warnte der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, vor der Gefahr einer russischenAttacke auf Nato-Gebiet und rügte die unzureichende Ausstattung der deutschen Streitkräfte. „Ich halte es für gut möglich, dass Putin über kurz oder lang sogar eine räumlich begrenzte konventionelle Auseinandersetzung – einen Krieg – mit einem Bündnispartner, und damit mit uns, führt. Ich frage: Wie sind wir darauf vorbereitet? Ich fürchte: schlecht“, sagte Wüstner unserer Redaktion.

„Die Bedrohungslage für das Bündnis und damit für Deutschland ist äußerst angespannt“, fügte Wüstner hinzu. „Wir brauchen eine höhere Geschwindigkeit im Zulauf von Hardware, Munition und Waffensystemen, Logistik, sanitätsdienstlicher Unterstützung.“

Das Zwei-Prozent-Ziel scheint auch im kommenden Jahr zu wackeln

Nach Einschätzung Wüstners handelt die Politik zu langsam. „Es kann nicht sein, dass uns die Welt um die Ohren fliegt und wir einfach weitermachen wie bisher! Die Zeitenwende, soweit sie die Bundeswehr betrifft, vollzieht sich in Zeitlupe“, rügte Wüstner. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) habe zehn Milliarden Euro mehr für den Verteidigungshaushalt verlangt – und sei damit in der Ampelkoalition gescheitert. „Das Ergebnis: Die qualitative Einsatzbereitschaft der Bundeswehr fällt immer weiter. Wir sind weit davon entfernt, die Ankündigung von Bundeskanzler Scholz, bald die größte konventionelle Armee im Rahmen der Nato zu stellen, einzuhalten, von den Nato-Verpflichtungen ab 2025 ganz zu schweigen“, so Wüstner.

Tatsache ist: Das Zwei-Prozent-Ziel scheint auch im kommenden Jahr zu wackeln. Laut dem Haushaltsentwurf für 2024 reserviert die Bundesregierung 51,8 Milliarden Euro für Verteidigung. Hinzu kommen 19 Milliarden Euro (inklusive Zinszahlungen) aus dem Sondervermögen der Bundeswehr. „Das sind nur 1,7 Prozent der Wirtschaftsleistung. Es fehlen 14 Milliarden Euro, die bei anderen Ministerien als Verteidigungsausgaben klassifiziert werden müssten“, erklärte Marcel Schlepper vom Ifo-Institut. Für die Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels wären 85 Milliarden Euro nötig.

„Die Bedrohung durch Russland wird in einigen Jahren real werden“

Andere Experten halten das Sondervermögen nur für eine Art Strohfeuer. „Schlimmer noch wird die zukünftige Lücke sein, denn nach bisheriger Planung werden die Gesamtverteidigungsausgaben nach 2026 massiv abfallen, sobald das Sondervermögen aufgebraucht ist und der reguläre Verteidigungshaushalt konstant bleibt“, sagte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) unserer Redaktion. Die Bundeswehr sei noch lange nicht da, wo sie sein müsse. „Wir sind noch nicht auf der neuen Planungsgrundlage: Was bedeutet es, Russland abzuschrecken?“, so Mölling. „Die Bedrohung durch Russland wird in einigen Jahren real werden. Abschreckung Russlands bedeutet in erster Linie Masse: Wir brauchen viel mehr von dem Militärgerät, was wir bereits haben.“

Russische Truppen rücken 2022 im Donbass vor.
Russische Truppen rücken 2022 im Donbass vor. © IMAGO/ITAR-TASS | IMAGO/Peter Kovalev

Der Chef des Bundeswehrverbandes forderte „schnellstens“ eine Tagung des Bundessicherheitsrates und des Koalitionsausschusses. Diese müssten sich mit den „möglichen Worst-Case-Szenarien der nächsten Jahre“ auseinandersetzen und konsequent Schlüsse ziehen. „Es muss zwingend in die bereits laufenden Haushaltsverhandlungen eingegriffen und der Verteidigungsetat für 2024 signifikant angehoben werden“, betonte Wüstner. „Die Kapazitäten der Rüstungsindustrie Deutschlands müssen derart erhöht werden, dass wir mit Blick auf Munition und Ausstattung endlich wieder ‚vor die Welle‘ kommen.“

„Wir bewegen uns in eine Zeit der kriegerischen Auseinandersetzung“

Deutschland habe in der Vergangenheit zu passiv auf globale Krisen und Kriege reagiert. Wenn die Ampel jetzt nicht handele, „werden wir uns später fragen müssen, weshalb wir im Herbst 2023 weiter im Schlafwandel-Modus agiert haben“, erklärte der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes. „Wir dürfen nicht vergessen: Die deutsche Regierung wurde zuletzt von der Annexion der Krim überrascht, vom Drohnenkrieg um Bergkarabach. Und vom brutalen Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine, wobei Putin davon ausgeht, den längeren Atem zu haben. Und nun kam der unerwartete barbarische Angriff der Hamas auf Israel, gestützt von der Iran-Russland-Connection.“

Wüstner machte sich für einen Blick auf die globale Lage stark. „Wir müssen das größere Bild sehen: Es besteht aus einer Vielzahl von Krisen und Konflikten, die alle ineinandergreifen. Und wir müssen die Konsequenzen daraus ziehen“, unterstrich Wüstner. „Noch ist völlig offen, ob wir vor einem Flächenbrand im Nahen Osten stehen. Dennoch dürfen wir keine Sekunde das Agieren des russischen Präsidenten Putin aus den Augen verlieren: Er investiert weiter enorm in sein Militär, die Kriegswirtschaft in Russland läuft auf Hochtouren. Neben seinem imperialistischen Angriffskrieg führt er Desinformationskampagnen, zündelt am Balkan und destabilisiert den Sahel.“

Eine Stärkung der Bundeswehr sei auch deshalb nötig, weil die Vereinigten Staaten zunehmend im Pazifik und nun auch im Nahen und Mittleren Osten gebunden seien. „Wann wäre die Gelegenheit, wenn nicht jetzt, Führung zu zeigen, die USA zu entlasten und seitens Deutschlands in Europa den Geist einer Verteidigungsunion wieder aufleben zu lassen?“, so Wüstner. Er schließt mit einem Mahn- und Weckruf: „Wir müssen jetzt erkennen, dass wir uns von einer Epoche des Friedens in eine Zeit der kriegerischen Auseinandersetzung bewegen. Wir müssen jegliche Naivität ablegen und endlich wieder verteidigungs- und abschreckungsfähig werden.“