Brüssel. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg über die Gefahr einer Eskalation des Ukraine-Krieges – und was er von Deutschland erwartet.

Werden wir schleichend zur Kriegspartei in der Ukraine? Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sitzt in seinem Büro im futuristischen Hauptquartier der Allianz in Brüssel und erklärt, wie die Nato verhindern will, dass der Krieg außer Kontrolle gerät. Im exklusiven Interview mit unserer Redaktion sagt der Norweger auch, warum sich Kanzler Olaf Scholz ein Beispiel an Willy Brandt nehmen sollte.

Russland kämpft in der Ukraine längst gegen die Nato – sagt Wladimir Putin. Was entgegnen Sie?

Jens Stoltenberg: Die Nato unterstützt die Ukraine, aber sie ist keine Konfliktpartei. Wir haben keine Soldaten am Boden und keine Flugzeuge in der Luft über der Ukraine. Ich erinnere daran, dass wir es mit einem russischen Angriffskrieg gegen ein unabhängiges demokratisches Land in Europa zu tun haben. Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung – und wir haben das Recht, sie zu unterstützen.

Nato-Staaten liefern immer neue Waffensysteme in die Ukraine. Ist die Entsendung von Soldaten völlig ausgeschlossen?

Stoltenberg: Die Nato wird sich nicht direkt an diesem Krieg beteiligen. Wir haben zum einen die Aufgabe, die Ukraine zu unterstützen – und zum anderen, eine Eskalation dieses Krieges über die Ukraine hinaus zu verhindern. Es darf keinen Krieg zwischen Russland und der Nato geben. Aus diesem Grund haben wir unsere Präsenz an der Ostflanke verstärkt. Moskau sollte keinen Zweifel daran haben, dass wir alle Verbündeten beschützen und verteidigen.

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Kiew ruft nach Taurus-Marschflugkörpern aus Deutschland. Sollte die Bundesregierung liefern?

Stoltenberg: Deutschland ist eine Führungsnation bei der militärischen Unterstützung der Ukraine. Das ist ein Beitrag von unschätzbarem Wert. Es wäre eine Tragödie für die Ukrainer, wenn Präsident Putin gewinnt. Wir haben die Gräueltaten gesehen, die russische Soldaten in Butscha und anderswo begangen haben. Aber es wäre auch gefährlich für uns. Putin darf nicht den Eindruck bekommen, dass er seine Ziele erreicht, wenn er Gewalt anwendet. Daher werden wir an der Seite der Ukraine stehen, solange es nötig sein wird.

Was bedeutet das für Taurus?

Stoltenberg: Dazu werde ich nicht in Details gehen. Aber ich begrüße, dass manche Alliierte – Großbritannien, Frankreich, die Vereinigten Staaten – bereits weitreichende Raketensysteme geliefert haben. Deutschlands starke Unterstützung der Ukraine, einschließlich Panzer und Luftabwehrsysteme, macht einen entscheidenden Unterschied.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg während des Interviews in seinem Büro im Nato-Hauptquartier in Brüssel.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg während des Interviews in seinem Büro im Nato-Hauptquartier in Brüssel. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

In der Bundesregierung gibt es die Sorge, die Ukraine könnte mit deutschen Waffen russisches Territorium angreifen. Verstehen Sie das?

Stoltenberg: Präsident Putin hat sich entschieden, die Ukraine anzugreifen – ein Land, von dem keinerlei Bedrohung für Russland ausgegangen ist. Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung, das in der UN-Charta verankert ist. Und wenn wir die UN-Charta ernst nehmen, müssen wir der Ukraine helfen, sich selbst zu verteidigen.

Alarmiert es Sie, dass wiederholt russische Drohnen auf Nato-Gebiet fallen? Rumänien berichtet von drei Abstürzen innerhalb weniger Tage …

Stoltenberg: Das sind ernsthafte Zwischenfälle. Wenn russische Drohnen auf Nato-Staaten stürzen, wird deutlich, welche Gefahr von dem Krieg auch für Nachbarländer ausgeht. Deswegen hat die Nato ihre Präsenz in Rumänien und anderen Anrainerstaaten ausgeweitet. Wir senden eine starke Botschaft der Abschreckung – und helfen dabei, mögliche Bedrohungen frühzeitig zu erkennen. Ich freue mich über die Ankündigung der Vereinigten Staaten, die Nato-Luftraumüberwachung in Rumänien mit weiteren F-16 Kampfflugzeugen zu stärken.

Was steckt hinter den Drohnen-Abstürzen?

Stoltenberg: Wir haben keine Hinweise darauf, dass die Drohnen-Vorfälle absichtliche Angriffe auf Nato-Gebiet sind.

Sehen Sie die Gefahr einer atomaren Eskalation gebannt? Oder könnte Putin doch noch zu Nuklearwaffen greifen?

Stoltenberg: Putins nukleare Rhetorik ist gefährlich und rücksichtslos, aber die Nato ist auf alle Bedrohungen und Herausforderungen vorbereitet. Der Zweck der Nato ist, Krieg zu verhindern – erst recht einen Nuklearkrieg. Wir haben eine glaubwürdige Abschreckung.

Wie würde die Nato reagieren, sollte Russland eine Atomrakete auf die Ukraine abfeuern?

Stoltenberg: Wir haben eine klare Botschaft an Russland geschickt: Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf niemals geführt werden. Moskau muss verstehen, dass der Einsatz von Atomwaffen inakzeptabel ist. Wir beobachten sehr genau, was die russische Armee tut. Bisher haben wir keine Veränderungen bei den russischen Atomstreitkräften bemerkt, die uns veranlassen würden, darauf zu reagieren.

Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un (links) und der russische Präsident Wladimir Putin während ihres Treffens in Russland.                                                AFP PHOTO/KCNA VIA KNS
Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un (links) und der russische Präsident Wladimir Putin während ihres Treffens in Russland. AFP PHOTO/KCNA VIA KNS © AFP | Str

Putin sucht den Schulterschluss mit Nordkoreas Diktator Kim Jong-un. Macht die neue Waffenbrüderschaft den Krieg noch unberechenbarer?

Stoltenberg: Dieses Treffen in Russland demonstriert nur, wie isoliert Putin ist. Er muss sich an den Iran und Nordkorea wenden, um Waffen zu erhalten. Die Ukraine dagegen hat viele Freunde in der Welt. Das zeigt den großen Unterschied zwischen einem isolierten, autoritären Russland und den demokratischen, freiheitlichen Nationen. Niemand sollte den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen.

Wann endet dieser Krieg?

Stoltenberg: Das weiß niemand. Die meisten Kriege dauern länger, als bei ihrem Ausbruch erwartet wurde. Deswegen müssen wir uns auf einen langen Krieg in der Ukraine vorbereiten. Wir alle wünschen uns einen schnellen Frieden. Gleichzeitig müssen wir erkennen: Wenn Präsident Selenskyj und die Ukrainer aufhören zu kämpfen, wird ihr Land nicht mehr existieren. Wenn Präsident Putin und Russland die Waffen ruhen lassen, werden wir Frieden haben. Der einfachste Weg, diesen Krieg zu beenden, ist, wenn Putin seine Truppen zurückzieht.

Wird die Ukraine direkt nach einer Friedensvereinbarung in die Nato aufgenommen?

Stoltenberg: Die Ukraine wird Mitglied der Nato – das haben alle Alliierten deutlich gemacht. Beim Nato-Gipfel in Vilnius ist die Ukraine näher an die Nato herangerückt. Wenn dieser Krieg endet, brauchen wir Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Sonst könnte sich Geschichte wiederholen.

Sicherheitsgarantien – aber noch keine Mitgliedschaft?

Stoltenberg: Eine Friedensvereinbarung darf Russland nicht als Atempause dienen, um dann von neuem anzugreifen. Wir können Russland nicht erlauben, die Sicherheit in Europa noch länger zu gefährden. Es gibt keinen Zweifel, dass die Ukraine am Ende in der Nato sein wird.

Wann schafft es Schweden, der Allianz beizutreten? Aus der Türkei kommt immer noch kein grünes Licht …

Stoltenberg: Schweden wird der Nato in allernächster Zukunft beitreten. Präsident Erdogan hat deutlich gemacht, dass die Türkei den Beitritt Schwedens so schnell wie möglich ratifizieren wird. Ich erwarte die Entscheidung des türkischen Parlaments später in diesem Herbst. Das ist gut für Schweden, für die Nato und auch für die Türkei.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Wäre eine Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus eine Gefahr für unsere Sicherheit? Als Präsident hat er mit einem Nato-Austritt der USA gedroht …

Stoltenberg: Die NATO besteht aus 31 Ländern mit verschiedenen Parteien und verschiedenen Regierungschefs. Trotz Meinungsverschiedenheiten haben wir uns immer hinter unserer zentralen Aufgabe versammelt, einander zu beschützen. Ich erinnere daran, dass die USA in der Zeit von Präsident Trump ihre militärische Präsenz in Europa erhöht haben. Es gibt in den USA – das gilt für Republikaner wie für Demokraten – eine starke Unterstützung für die Nato. Der Aufstieg Chinas, seine Gebietsansprüche im südchinesischen Meer, machen es für die USA noch wichtiger, Freunde und Verbündete in der Nato zu haben. Die Nato ist wichtig für die europäische Sicherheit, aber auch für die Vereinigten Staaten.

Trump war nicht gut auf Deutschland zu sprechen – auch wegen der Verteidigungsausgaben. Das Nato-Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Verteidigung zu investieren, hat Deutschland immer noch nicht erreicht. Was ist Ihre Botschaft an Kanzler Scholz?

Stoltenberg: Die Rede von Kanzler Scholz über die Zeitenwende und das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro war historisch. Die Bundesregierung ist auf einem guten Weg. Ich erwarte aber, dass Deutschland – wie alle Alliierten – das Zwei-Prozent-Ziel erreicht. Für das Bündnis macht es einen riesigen Unterschied, ob sich das größte Land Europas an diese Vorgabe hält oder nicht. Zwei Prozent von einem großen Kuchen sind eben mehr als zwei Prozent von einem kleinen Kuchen.

Reichen Ihnen zwei Prozent?

Stoltenberg: Wir haben in Vilnius festgelegt, dass zwei Prozent das Minimum sind. Ich gehe davon aus, dass viele Alliierte dieses Ziel übertreffen werden.

Was wäre Ihre Zielvorstellung? Drei Prozent? Oder fünf?

Stoltenberg: Die Nato hat hier eine klare Entscheidung getroffen und ich freue mich, dass immer mehr Nato-Länder das Zwei-Prozent-Ziel erreichen. Der russische Angriffskrieg hat uns allen vor Augen geführt, dass wir mehr für unsere Streitkräfte ausgeben müssen. Ich war ja viele Jahre selbst Regierungschef und weiß, wie schwierig es ist, mehr Geld für Verteidigung einzuplanen, wenn auch höhere Ausgaben für Gesundheit, Bildung oder Infrastruktur notwendig sind. Aber wenn die Spannungen zunehmen, muss man die Verteidigungsausgaben erhöhen. Im Kalten Krieg, als Konrad Adenauer oder Willy Brandt regierten, lagen die Verteidigungsausgaben bei drei bis vier Prozent der Wirtschaftsleistung. In meinem Heimatland Norwegen war es ähnlich. Wir haben das damals geschafft, und wir müssen es heute wieder schaffen.

Wie kann sich die Nato langfristig gegen die russische Bedrohung behaupten?

Stoltenberg: Wir brauchen Investitionen in bestehende Waffensysteme, in Munition, aber auch in neue Technologien. Daher hat die Nato einen Innovationsfonds gegründet, zudem bündeln wir unsere Kräfte bei der Rüstungsbeschaffung. Deutschlands sehr moderne Verteidigungsindustrie ist noch wichtiger geworden, damit die Nato ihren technologischen Vorsprung halten kann.

Sie haben Ihren Vertrag als Nato-Generalsekretär auf Wunsch der Regierungschefs noch einmal verlängert. Ist das jetzt definitiv Ihr letztes Jahr an der Spitze der Allianz?

Stoltenberg (lacht): Ja! Ich verstehe, dass es seltsam klingt, wenn ich das jetzt sage. Aber ich bin sehr sicher, dass die Nato gute Kandidaten für diesen Posten hat.

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