Donezk. Rubin und seine Männer kämpfen in Donezk einen ungleichen Kampf – mit selbstgebauten Drohnen gegen Hightech. Angst ignorieren sie.
Im Halbdunkeln taucht die Ruine eines dreizehnstöckigen Hochhauses auf, die Fenster nur noch leere Höhlen, die Mauern übersät mit Löchern, ein Teil des Gebäudes ist in sich zusammengebrochen. Bäume mit zersplitterten Ästen, kleine zertrümmerte Wohnhäuser und menschenleere Straßen: Das Video einer Fahrt durch Awdijiwka zeigt eine neue Hölle, die sich in der Ukraine aufgetan hat. Um die apokalyptische Ruinenlandschaft zu erobern, opfert Moskau derzeit Tausende Soldaten. Ukrainische Kämpfer leisten erbitterten Widerstand. Der Krieg ist einmal mehr in eine neue Phase eingetreten.
Awdijiwka liegt im Osten der Ukraine, nur einige hundert Meter entfernt von der Grenze zur sogenannten Volksrepublik Donezk. Mit dem Ausbruch des Krieges im Donbass im Jahr 2014 wurde Awdijiwka zur Frontstadt, immer wieder lieferten sich prorussische Separatisten und die ukrainische Armee dort Feuergefechte. Seit Anfang Oktober tobt eine Schlacht um die Kleinstadt, die ähnlich blutig und brutal ist wie die Schlacht um das rund neunzig Kilometer nördlich gelegene Bachmut, das im Mai von den russischen Streitkräften nach monatelangen Kämpfen erobert wurde.
In einem kleinen Dorf in der Region Donezk, in dem das wütende Donnern und Grollen des Krieges nur noch ein Raunen ist, erholen sich Rubin und die anderen Männer seiner Einheit in einem alten Bauernhaus von den Strapazen der vergangenen Wochen. In der abgestandenen Luft in den kleinen Zimmern hängt der Geruch von Zigarettenrauch, Essen, Kaffee, feuchter Kleidung. Munitionskisten stehen neben Feldbetten, auf einem Tisch liegen Sprengsätze und Drohnen neben einer Tüte mit Macadamia-Nüssen. Die Männer sind Elitesoldaten. Sie kämpfen in der Spezialeinheit Omega, die der ukrainischen Nationalgarde unterstellt ist. Gestern sind sie aus Awdijiwka zurückgekommen.
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Putin braucht Erfolge an der Front – im März sind Wahlen
Aus der Kleinstadt herauszufahren, ist ein lebensgefährliches Unterfangen. Die Straße dorthin ist in Reichweite der russischen Artillerie, jedes Fahrzeug wird mit Drohnen gejagt. Awdijiwka liegt in einer Einbuchtung der Front, im Norden und Süden stehen die Truppen Moskaus und attackieren die ukrainischen Verteidiger täglich. Sie wollen die Stadt einkesseln und nehmen dafür gewaltige Verluste in Kauf. Russlands Präsident Wladimir Putin wird wahrscheinlich zu den russischen Präsidentschaftswahlen im kommenden März antreten. Er braucht Erfolge auf dem Schlachtfeld.
„Wir beobachten mit unseren Drohnen, dass sich die Leichen des Feindes stapeln, sie nehmen sie nicht einmal mit“, erzählt Rubin. Er sitzt auf einem verschlissenen Sofa und wirkt müde. Er hat einen Monat in Awdijiwka gekämpft. Die russische Taktik erinnert an das Vorgehen in Bachmut. Auch dort ließ die russische Führung ihre Soldaten ohne Rücksicht auf Verluste gegen die ukrainischen Stellungen anstürmen. Zehntausende starben. „Aber ich sage Ihnen, dass auch jeden Tag viele unserer Soldaten sterben“, sagt Rubin. Erst am Vortag sind zwei Männer seiner Einheit verletzt worden, die nun im Einsatz fehlen. Anders als Russland hat die Ukraine kein unerschöpfliches Reservoir an Soldaten. Das ist ein immer größer werdendes Problem.
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Rubin ist der Funkname des ukrainischen Kämpfers. Sein richtiger Name darf aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Er ist erst 29, aber bereits ein erfahrener Soldat. Bereits 2011 trat er in die Nationalgarde ein und hat viel Kampferfahrung im Donbass gesammelt. 2020 pausierte er, war für einige Zeit in Berlin und hat als Freiwilliger ausgerechnet für eine Organisation gearbeitet, die sich für den deutsch-russischen Dialog einsetzt. Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, meldete sich Rubin wieder zum Einsatz.
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Ukraine-Krieg: Schnelle Erfolge werden unwahrscheinlicher
Im Sommer kämpften Rubin und die anderen Männer seiner Einheit in der mit so großen Erwartungen verbundenen ukrainischen Gegenoffensive, waren an der Befreiung von Dörfern wie Urozhaine im Süden der Donezk-Front beteiligt. Jetzt müssen die Elite-Soldaten die russischen Angriffe in Awdijiwka aufhalten. Das Blatt hat sich zugunsten Moskaus gewendet, doch Rubin gibt sich gelassen – obwohl die ukrainischen Streitkräfte es nicht geschafft haben, die russischen Verteidigungslinien im Süden zu durchstoßen und jetzt in der Defensive sind, während die Russen an nahezu allen Abschnitten der über tausend Kilometer langen Front angreifen.
.„Ich bin Realist“, sagt er. Und es sei unrealistisch gewesen, einen schnellen Erfolg zu erzielen, wie ihn sich Politik und Medien gewünscht hätten. Ein operatives Ziel wie die Befreiung der von den Russen zur Festung ausgebauten Stadt Tokmak im Süden des Landes, das sei machbar gewesen. Er schnippt mit den Fingern. „Wir hätten es so nehmen können. Aber zu welchem Preis? Doch nur auf Kosten vieler gefallener Soldaten.“ Ein Erfolg, glaubt Rubin, sei es schon, dass man jetzt verstanden habe, wo die Schwachstellen der Russen liegen. „Alles hat seine Zeit.“
“Der Krieg hat sich in den vergangenen Monaten verändert. Der massive Einsatz von Aufklärungs-Drohnen auf beiden Seiten hat das Schlachtfeld transparenter gemacht. Große Überraschungsangriffe wie im vergangenen Herbst, als die ukrainischen Streitkräfte handstreichartig Tausende Quadratkilometer im Nordosten des Landes befreien konnten, sind nicht mehr vorstellbar, weil große Truppenbewegungen sofort auffallen. Gleichzeitig setzen sowohl die Russen als auch die Ukrainer immer mehr Angriffs-Drohnen ein. Auch hier sind die Russen im Vorteil.
Russland kämpft mit Hightech, die Ukrainer improvisieren
Rubin und seine Männer modifizieren in ihrer Unterkunft handelsübliche Drohnen, indem sie sie mit selbstgebastelten Sprengsätzen bestücken. Die gegnerische Seite dagegen kann auf High-Tech zurückgreifen. Der junge Soldat zeigt ein Video auf seinem Telefon. Es ist ein Clip der russischen Streitkräfte, der nächtliche Drohnenangriffe auf ukrainische Stellungen dokumentiert. Drohnen mit Nachtsichtfunktion. „So etwas haben wir noch nicht“.
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Trotz alledem ist Rubin optimistisch, dass es den ukrainischen Verteidigern gelingen wird, Awdijiwka zu halten. In den vergangenen Jahren sind die Verteidigungsstellungen in der Stadt gut ausgebaut worden. Awdijiwka hat eine größere strategische Bedeutung als Bachmut. Hier verläuft eine Eisenbahnlinie, über die Moskau Nachschub ins Kriegsgebiet bringen könnte, zudem könnten die Russen von hier aus die restlichen noch unter ukrainischer Kontrolle stehenden Städte in der Region Donezk angreifen. Rubin sagt, er wisse, dass bei manchen Einheiten angesichts der russischen Angriffswellen die Motivation sinke. „Bei meinen Jungs ist es anders.“
Auf seiner Schulter trägt Rubin einen Aufnäher. Darauf sind ein Soldat und ein Skelett zu sehen, die beiden prosten sich zu und scheinen zu tanzen. „Krieg ist der Tod“, sagt er. Vor kurzem ist der Kommandeur ihrer Einheit gestorben. „Es ist schwer, Brüder zu verlieren, denn jeder hat Familie, hat Kinder.“ Er überlegt kurz. „Es ist ein Tanz mit dem Tod. Aber nur wenn wir ihm in die Augen schauen und keine Angst vor ihm haben, können wir weitermachen.“
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