Berlin/Rafah. Zu wenig Wasser, Medikamente, Lebensmittel: Die Menschen in Gaza sind im Überlebensmodus. Eine UN-Psychologin erklärt die Auswirkungen.
Mit dem Angriff auf Israel hat die Hamas einen Krieg ausgelöst, der jetzt ihre eigene Bevölkerung im Gazastreifen trifft. Die Zerstörung in der abgeriegelten Region ist groß, es fehlt am Nötigsten.
Nina Schöler ist Psychologin und Psychotherapeutin. Sie ist bei der UNRWA, dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, als Beraterin für psychische Gesundheit angestellt. Bereits vor Ausbruch des Kriegs war sie in Gaza im Einsatz. Mittlerweile befindet sie sich mit internationalen und nationalen UN-Kolleginnen und Kollegen sowie 8000 palästinensischen Geflüchteten in einer UN-Basis in Rafah, im Süden des Gazastreifens.
Frau Schöler, Sie sind aktuell im südlichen Gazastreifen. In welcher Situation befinden sich die Menschen dort zurzeit?
Viele Menschen haben alles verloren. Sie haben Angst, um ihre Familien, Freunde, ihr eigenes Leben. Jeder kennt jemanden, der während der vergangenen elf Tage getötet oder dessen Haus zerstört wurde. Es ist fast kein Trinkwasser mehr vorhanden, Nahrungsmittel und Medizin werden knapp. Ohne Hilfslieferung aus dem Ausland – vor allem Benzin und Diesel, um die Entsalzungsanlagen mit Strom zu versorgen – werden die Menschen innerhalb von wenigen Tagen kein Trinkwasser mehr haben.
Etwa die Hälfte der Menschen im Gazastreifen wurden bisher durch den Krieg aus ihren Häusern vertrieben, sind in den Süden geflohen. Doch auch hier werden sie bombardiert. Deshalb sucht mehr als eine halbe Million Menschen Schutz in den 148 UN-Gebäuden in Gaza, die durch das internationale Völkerrecht geschützt sind und nicht angegriffen werden dürfen. Dennoch wurden 32 davon bei Luftangriffen beschädigt, eine Schule direkt angegriffen, mit 8 Toten und 40 Verletzten. Kein Ort in Gaza ist sicher, für niemanden.
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Was bedeutet das für die psychische Gesundheit der Menschen?
Die Menschen fühlen sich hilflos und haben keine Kontrolle darüber, was um sie herum geschieht. Sie befinden sich im Überlebensmodus: Essen, trinken, schlafen, funktionieren. Wenn sich die Situation irgendwann stabilisiert haben wird – wie auch immer das aussehen mag – werden die massiven Konsequenzen für die Psyche der Menschen sichtbar werden, die sie über sehr lange Zeit stark beeinträchtigen werden.
Fast die Hälfte der Bevölkerung in Gaza sind Kinder. Wie sehr trifft sie der Krieg?
Kinder gehören neben Schwangeren und Frauen generell sowie chronisch kranke Menschen zu der verletzlichsten Bevölkerungsgruppe. Die Kriegsereignisse haben massive Auswirkungen auf die psychische und körperliche Entwicklung der Kinder. Wir beobachten eine große Bandbreite an Symptomen bei den Kindern: Angst, Wut, Aggressivität, Isolationsverhalten, Bettnässen und Einkoten, sowie andere Verhaltensauffälligkeiten.
Es ist für die Kinder sehr schwer zu verstehen, was passiert, warum sie ihr Haus verlassen müssen. Viele sehen gewaltvolle Szenen, die kein Kind jemals sehen sollte. Es gibt bereits einige Studien über diese Bevölkerungsgruppe in Gaza, die nachweisen, dass psychische und Verhaltensprobleme in und nach Eskalationen weit verbreitet sind und lange anhalten.
Sie haben von weiteren vulnerablen Bevölkerungsgruppen gesprochen, die die Ereignisse besonders treffen...
In Gaza gibt es aktuell zehntausende schwangere Frauen und viele Menschen mit chronischen Erkrankungen. Alte Menschen, die besonderen Schutz brauchen, besondere Ressourcen benötigen, die aktuell nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen. Medizinische Versorgung, Medikamente, Privatsphäre, saubere Sanitäranlagen – all das können die Notunterkünfte aktuell aufgrund der Blockade nur minimal bieten.
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Wie sieht Ihre Arbeit als Psychologin bei der UNRWA seit Kriegsbeginn aus?
Bisher war meine Aufgabe, die verschiedenen Programme, die die UN im Bereich psychische Gesundheit anbietet, miteinander zu integrieren. Denn der israelisch-palästinensische Konflikt führt seit Jahrzehnten für die Bevölkerung in Gaza zu einer ausgeprägten, chronischen psychischen Belastung.
Mit Beginn des Krieges hat sich mein Aufgabenbereich verändert. Während diesem akuten Notzustand bedeutet Fürsorge für die psychische Gesundheit vor allem die Befriedigung der Grundbedürfnisse: eine sichere Unterkunft, Zugang zu Trinkwasser und Nahrung sowie saubere Sanitäranlagen. Für die Geflüchteten stehen zudem qualifizierte, lokale Psychologen und Sozialarbeiter zur Verfügung, die mein Team und ich koordinieren und supervidieren.
Wie gehen Sie persönlich mit der aktuellen Situation um?
Ich befinde mich aktuell mit 30 internationalen UN-Angestellten, Angestellten internationaler Nicht-Regierungsorganisationen und vielen lokalen UN-Kollegen sowie 8000 intern Vertriebenen in einer UN-Notunterkunft in Rafah. Die internationalen und viele lokale Kollegen teilen sich das Administrationsgebäude, wo wir dicht an dicht arbeiten, in unseren Büros schlafen. Es gibt keine Duschen, keine Möglichkeit Wäsche zu waschen. Es ist schwierig.
Trotzdem ist unsere Situation sehr privilegiert im Vergleich zu der der vertriebenen Menschen, die auf demselben Gelände in Lagerhallen und auf den Straßen dazwischen kampieren. Doch für uns alle werden die Ressourcen knapp. Ich versuche die Kollegen vor Ort so gut es geht mental zu unterstützen, damit wir die Kapazität haben, trotz der Umstände unsere Arbeit für die lokale Bevölkerung fortzuführen. Ich selbst erhalte täglich Supervision von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen außerhalb von Gaza, um meine eigene mentale Gesundheit zu schützen. Wir tun alles in unsere Macht Stehende, die zivile Bevölkerung in Gaza zu unterstützen.
Welche Sorgen haben Sie mit Blick auf die kommenden Tage?
Essenziell ist die Versorgung mit Benzin, Wasser, Nahrungsmitteln und Medikamenten. Wir verbrauchen aktuell die allerletzten noch vorhanden Ressourcen. Innerhalb weniger Stunden oder Tage werden diese lebensnotwendigen Ressourcen aufgebraucht sein. Es zählt jede Minute, um die an der ägyptischen Grenze bereitstehenden Ressourcen nach Gaza hereinzulassen und Leben zu schützen. Wir sind hier, mit den Menschen, für die Menschen und werden hier präsent bleiben.
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