Berlin. Katarina Barley, Vizepräsidentin des EU-Parlaments, warnt vor bestimmten Leistungen für Asylbewerber – und einem Rechtsruck in Europa.
Es kommen wieder mehr Flüchtlinge nach Deutschland, und die Politik ringt um Lösungen. Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments und SPD-Spitzenkandidatin zur Europawahl, sagt im Interview mit unserer Redaktion, wie sie die europäische Asylreform menschlicher gestalten möchte – und welche Konsequenzen die Posts von Elon Musk haben sollten.
Der Höhenflug der AfD hält an. Ist das europäische Normalität, Frau Barley?
Katarina Barley: Es ist kein einheitlicher Trend. Rechtspopulisten haben tatsächlich in vielen Ländern zugelegt. Bei anderen Wahlen haben sie deutlich schlechter abgeschnitten als erwartet, zuletzt in Spanien. In Italien, Schweden oder Finnland haben Konservative sie an Regierungen beteiligt. Das bedeutet auch, dass in der nächsten EU-Kommission mehr rechtspopulistische Kommissare sitzen können. Wir erleben in der EU also durchaus einen Rechtsruck. Umso wichtiger ist es, dass das Europäische Parlament mit Blick auf die Europawahlen 2024 ein progressives Gegengewicht bleibt.
Die illegale Migration liefert den Rechtspopulisten Munition. Gelingt der EU mit ihrer Asylreform die Wende?
Barley: Das Asylsystem der EU funktioniert seit Langem nicht. Seit den Fluchtbewegungen 2015 sind alle Reformversuche an den Mitgliedstaaten gescheitert. Jetzt ist den Innenministern ein Durchbruch gelungen, über den Parlament und Rat endgültig verhandeln. Das ist Nancy Faesers Verdienst und eine Chance auf Verbesserung des jetzigen unhaltbaren Zustands. Ich sehe bei allen Beteiligten den guten Willen, zum Abschluss zu kommen.
Was wollen Sie in den Verhandlungen noch erreichen?
Barley: Das Parlament hat in einigen Punkten eine andere Haltung als der Rat. Wir brauchen ein praktikables System, an das sich alle halten. Asylbewerber, die nicht bleiben können, müssen Europa zügig wieder verlassen. Aber das muss in rechtsstaatlichen Verfahren und nach humanitären Standards geschehen. Eine humanitäre Forderung wäre: Bei den Unterbringungen an den EU-Außengrenzen brauchen wir Ausnahmen für Familien mit Kindern unter 12 Jahren.
Stimmen Sie mit Nein, wenn Sie sich damit nicht durchsetzen?
Barley: Es geht um ein Gesamtpaket, das dem Selbstverständnis der EU als Wertegemeinschaft gerecht wird und gleichzeitig die Probleme angeht. Über mein Abstimmungsverhalten entscheide ich, wenn der endgültige Vorschlag auf dem Tisch liegt.
Umstritten ist auch die private Seenotrettung im Mittelmeer. Elon Musk, Eigner des Twitter-Nachfolgers X, hat nun die staatliche Unterstützung für Seenotretter kritisiert – und einen Wahlaufruf für die AfD geteilt. Was antworten Sie?
Barley: Wer Seenotrettung kriminalisiert, sollte dringend seine moralischen Standards überprüfen. Diese Haltung läuft darauf hinaus, Flüchtende ertrinken zu lassen, damit andere gar nicht kommen. Das ist an Menschenverachtung nicht zu überbieten. Wir müssen Menschen aus Seenot retten, darüber lässt sich gar nicht diskutieren.
Wenn Elon Musk seine Meinungsmacht so einsetzt – teilen Sie Forderungen nach einer Verstaatlichung des Kurznachrichtendienstes?
Barley: Bei privaten Betreibern ist offensichtlich große Vorsicht geboten. Es dürfte kaum möglich sein, Elon Musk diese Plattform wegzunehmen. Es ist aber eine Diskussion wert, ob die öffentliche Hand soziale Netzwerke mit eigenen, verantwortungsvollen Standards aufbauen sollte. Ich bin dafür, das genau zu prüfen.
Macht sich die EU etwas vor, wenn sie der Flüchtlingskrise mit Migrationsabkommen begegnen will? Die Vereinbarung mit dem Schlüsselland Tunesien steht schon wieder vor dem Aus ...
Barley: Wir brauchen diese Migrationsabkommen, um die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber zu erleichtern – aber sie müssen auch gut verhandelt sein. Das ist bei Tunesien ganz offensichtlich nicht der Fall. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die Regierungschefs Giorgia Meloni und Mark Rutte haben die Verhandlungen alleine geführt. Vertreter der deutschen und der französischen Regierungen wollten in Tunis dabei sein, wurden aber nicht eingeladen. Das rächt sich jetzt.
Deutschland hätte die Möglichkeit, Tunesien und weitere Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären ...
Barley: Die Zahlen der Asylbewerber, die aus Tunesien stammen und nicht nur durchreisen, sind verschwindend gering. Ein solcher Schritt hätte bei den Maghreb-Staaten keinen großen Effekt.
Die Leistungen für Asylbewerber sind in Deutschland höher als in den Nachbarstaaten – und werden bar ausgezahlt. Schaffen wir damit Anreize für Migration?
Barley: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass in Deutschland kein Mensch unter dem Existenzminimum leben muss, auch Asylbewerber nicht. Das ergibt sich aus unserem Grundgesetz. In Deutschland steht es den Bundesländern schon jetzt frei, Sach- statt Geldleistungen auszugeben. Aber überall dort, wo auf Sachleistungen umgestellt wurde, hat sich der Verwaltungsaufwand als enorm herausgestellt. Die meisten kehren dann wieder zur Geldleistung zurück. Es bringt einfach nichts.
Die Bundesregierung hat die mobilen Grenzkontrollen zu Polen und Tschechien verstärkt. Wie sinnvoll ist das?
Barley: Das freie Reisen ohne Grenzkontrollen ist für Europa eine große Errungenschaft. Mit mobilen Kontrollen lässt sich schnell und flexibel auf Hinweise reagieren, dass Schleuser unterwegs sind. Auf stationäre Kontrollen können sich die Schlepper einstellen. Daher würden sie vor allem den Grenzverkehr behindern, ohne große Wirkung zu entfalten.
In der Ukraine steht der zweite Winter seit der russischen Aggression bevor. Wie viele Kriegsflüchtlinge kann Deutschland noch aufnehmen?
Barley: Ich habe mir in Kiew die Winterhilfe angesehen. Die Menschen wollen in der Ukraine bleiben. Deshalb müssen wir sie im Land unterstützen, etwa bei der Notversorgung mit Energie. Da wurde im vorigen Winter viel geleistet, das müssen wir dringend wieder tun.
Die Ukraine ruft vor allem nach deutschen Marschflugkörpern – aber Kanzler Olaf Scholz verweigert die Lieferung. Können Sie das nachvollziehen?
Barley: Ich habe großes Vertrauen in unseren Bundeskanzler. Olaf Scholz hat in diesen Fragen bisher klug abgewogen. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, was die Folgen eines sofortigen Gas-Lieferstopps gewesen wären, den damals viele so vehement gefordert hatten. Wir haben wiederholt erlebt, dass andere Staaten uns zu Waffenlieferungen gedrängt haben und dann selber hinter ihren Forderungen zurückblieben. Die polnische Regierung, die Deutschland ständig kritisiert, stellt nun die Unterstützung wegen der Getreidelieferungen aus der Ukraine sogar ganz ein. Deutschland liefert verlässlich und ist der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine weltweit.
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Die EU diskutiert über einen Beitritt der Ukraine, Ratspräsident Charles Michel hat jetzt das Jahr 2030 genannt. Ist die EU überhaupt in der Lage, ein solches Land aufzunehmen?
Barley: Ich halte nichts davon, Jahreszahlen für einen EU-Beitritt der Ukraine zu streuen, die man am Ende nicht einhalten kann. Das ist nicht fair. Die Ukraine gehört in die EU. Deshalb ist ihr bereits der Kandidatenstatus verliehen worden, obwohl sie die Kriterien noch nicht erfüllt. Und bevor die Ukraine mit über 40 Millionen Einwohnern beitritt, wird sich auch in der EU sehr vieles ändern müssen.
Nämlich?
Barley: Ein Beispiel: Die Agrarsubventionen machen bisher ein Drittel aller EU-Ausgaben aus. Die Ukraine als Mitglied hätte Anspruch auf den Großteil dieser Hilfen, es würden nur noch wenige EU-Staaten profitieren. Selbst Polen würde aus der Agrarförderung rausfallen. Eine grundlegende Reform der Agrarförderung ist ein sehr langwieriger Prozess, den wir vor einem Beitritt der Ukraine angehen müssen.
Sie sind deutsche SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl. Treten Sie darüber hinaus für die europäischen Sozialdemokraten an?
Barley: Die Europäische Sozialdemokratie fällt diese Entscheidung im Frühjahr 2024.
Bewerben sich die Spitzenkandidaten wieder um das Amt des Kommissionspräsidenten – obwohl es beim letzten Mal schiefgegangen und der Wahlsieger Manfred Weber nicht zum Zug gekommen ist?
Barley: Nach meinem Verständnis ja. Es war ein Fehler, dass beim letzten Mal kein Spitzenkandidat Kommissionspräsident wurde. Das hat das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler enttäuscht. Wir sollten das Spitzenkandidaten-Prinzip aufrechterhalten. Es muss dann aber auch eingehalten werden.
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