Berlin. Militärexperte Carlo Masala erklärt die Risse in Putins Machtsystem – und sagt, welche Gefahr im Krieg in der Ukraine nun akut wird.
Er zählt zu den bekanntesten Militärexperten in Deutschland: Carlo Masala. Der 55-Jährige lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München und beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Ukraine-Krieg. Nach dem gestoppten Wagner-Aufstand in Russland spricht er von Rissen in Wladimir Putins Machtsystem und warnt vor der momentan größten Gefahr – am Atomkraftwerk in Saporischschja.
Herr Professor Masala, vor einer guten Woche stürmte Jewgeni Prigoschin mit seiner Söldnertruppe Wagner Richtung Moskau und niemand hielt ihn auf. Wie sehr hat das den russischen Präsidenten Putin geschwächt?
Carlo Masala: Das Machtsystem Putin hat deutliche Risse im Fundament gezeigt. Er hat auf den Aufstand erst zwölf Stunden gar nicht, dann sehr hart reagiert mit seiner Rede am Samstagmorgen. Und dann am Samstagabend gab es diese Vereinbarung mit Prigoschin, in der Putin ihm Amnestie gewährt hat. Das zeigt sehr deutlich, dass er in diesen Stunden einen Kontrollverlust erlebt hat. Das hat ihn vor allem innenpolitisch geschwächt. Die 36 Stunden haben Folgendes gezeigt: Es bewegt sich eine Söldnergruppe ohne nennenswerten Widerstand quer durch Russland. Eine zweite Truppe, die nicht Teil der regulären russischen Streitkräfte ist, nämlich Ramsan Kadyrow und seine Tschetschenen, werden zur Hilfe gerufen und treffen in Rostow ein. Und weder die Nationalgarde noch die Luftwaffe sind in der Lage, den Vormarsch Prigoschins zu stoppen. Das zeigt, dass man nicht in der Lage ist, die innere Sicherheit zu garantieren.
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Was hat Putin jetzt vor?
Masala: Er versucht gerade, die Kontrolle über sein Machtsystem zurückzubekommen. Es ist nicht offiziell bestätigt, aber es gibt Gerüchte über einen festgenommenen und einen entlassenen General.
Sie meinen die Gerüchte, der ehemalige Kommandeur der russischen Streitkräfte in der Ukraine, General Surowikin, sei festgenommen worden? Erleben wir da möglicherweise eine Säuberungswelle in der militärischen Führung?
Masala: Das ist offensichtlich. Das ist Putins Versuch, seine Macht wieder zu konsolidieren und die Gegner seines Ukraine-Kurses einzufangen. Man muss noch einmal betonen: Es geht bei den beiden Fraktionen nicht um die Frage, wie man diesen Krieg beenden kann, sondern nur darum, wie man ihn am effektivsten führt. Deshalb steht Putin bei Teilen des Militärs und bei Teilen des militärischen Geheimdienstes in der Kritik. Sollten sich Entlassung und Verhaftung bestätigen, wäre das der Beginn einer größeren Säuberungswelle. Dann werden mit Sicherheit noch weitere Verhaftungen folgen – vor allem auf niedrigerer Ebene.
Verteidigungsminister Sergej Schoigu scheint einer der Gewinner dieses Aufstands. Was verbindet ihn mit Putin?
Masala: Das weiß ich nicht. Es fällt aber auf, dass Schoigu in ranghohen politischen Positionen am längsten im Dunstkreis von Putin überlebt hat.
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Welche Rolle spielt Alexander Lukaschenko in diesem Machtkampf? Was führt er im Schilde, wenn er Belarus zum Asylquartier für Prigoschin und die Wagner-Söldner macht?
Masala: Ob Belarus zu einem Asylquartier für Wagner wird, das muss man erst noch sehen. Welche Rolle Lukaschenko gespielt hat, wissen wir nicht. Ob er nur vorgeschoben wurde von Putin oder wirklich vermittelt hat, wissen wir auch nicht. Aber Lukaschenko benutzt das jetzt, um sich ein wenig freizuschwimmen von dem Eindruck, dass er nur Putins Pudel ist. Wenn sie die ganze Meuterei auf die Frage durchklopfen, wer gewonnen hat, dann ist Lukaschenko der kleine Sieger. Einen großen Sieger gibt es nicht.
Ist ein Comeback von Prigoschin möglich?
Masala: Ich halte das für ausgeschlossen. Prigoschin wird für die Zukunft von Wagner keine Rolle mehr spielen. Er ist hoch gefährdet und kann froh sein, wenn er in den nächsten Jahren nicht getötet wird.
Wie stark ist die Söldnergruppe Wagner noch von Prigoschin abhängig?
Masala: Ich denke, er bleibt so was wie ihre Symbolfigur. Wagner wird nach meiner Einschätzung nicht aufgelöst werden, weil der russische Staat die Gruppe in Afrika braucht. Wagner vertritt dort russische Interessen, ohne dass die russische Armee dort offiziell auftreten muss, was völkerrechtlich ja schwierig wäre. Also wird Wagner weiter existieren – und zwar für die Auslandsaktivitäten. Die Wagner-Leute in der Ukraine sind aufgefordert worden, Teil der russischen Streitkräfte zu werden. Durch Putins Rede ist klar geworden, dass er zwischen Prigoschin, dem Verbrecher sozusagen, und den Wagner-Leuten, die dem Vaterland gute Dienste erwiesen haben, unterscheidet.
Könnte Putin versuchen, die Prigoschin-Sympathisanten, von denen es beim Militär ja einige gibt, auf seine Seite zu ziehen, indem er noch brutaler und härter gegen die Ukraine, gegen die Zivilbevölkerung vorgeht?
Masala: Nein, das glaube ich nicht. Es ging in der Auseinandersetzung mit Schoigu nicht um Härte, sondern um taktisch operative Fragen.
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Macht Putins Schwäche den Einsatz sogenannter schmutziger Bomben wahrscheinlicher? Wie groß ist die Gefahr, dass der Krieg eskaliert und mit Atomwaffen nicht nur gedroht wird?
Masala: Der Einsatz von Atomwaffen würde sofort katastrophale Konsequenzen haben für die Russische Föderation, das wird Putin nicht machen, das würde auch die Armee nicht machen. Die größte Gefahr momentan ist, dass die Ukrainer im Süden weiter vorankommen und die russische Armee dann mit Blick auf den Verlust des Südens das Atomkraftwerk in Saporischschja sprengt. Schmutzige Bomben, taktische Atomwaffen – das Risiko ist gering. Saporischschja ist das größte Problem.
Prigoschin war Putins Mann für die schmutzigen, blutigen Einsätze – wie im Kampf um Bachmut. Wird die Gruppe an der Front fehlen?
Masala: Das glaube ich nicht. Die Wagner-Truppe ist schon seit dem Rückzug aus Bachmut nicht mehr an der Front präsent, sie fehlt nicht.
Sind die russischen Soldaten an der Front durch den Aufstand und die Folgen militärisch oder moralisch geschwächt?
Masala: Wenn man in einem Krieg ist, von dem man eigentlich nicht weiß, wofür man ihn führt, schlecht ausgerüstet und trainiert ist und an der Heimatfront gibt es eine Meuterei – ich glaube nicht, dass sich das positiv auf die Kampfesmoral der Truppe auswirkt. Auch die Integration von Wagner-Kämpfern in die russischen Streitkräfte könnte problematisch werden. Ich sag es mal übertrieben: Sie liegen neben jemandem im Schützengraben, der einer Organisation angehört hat, die versucht hat, ihre militärische Führung zu stürzen. Positiv dürfte sich das nicht auf die russischen Streitkräfte auswirken.
Könnte die Ukraine Kapital daraus schlagen?
Masala: Militärisch hat das erst mal keinerlei Auswirkungen. Wenn diese Meuterei länger gedauert hätte, hätte die Ukraine vielleicht einen Vorteil gehabt. Dann wäre der Fokus eines großen Teils des russischen Sicherheitsapparats von der Ukraine weg auf Russland gerichtet worden.
Wäre jetzt die richtige Zeit für den großen Schlag der ukrainischen Gegenoffensive?
Masala: Nein, an der Front hat sich nichts geändert. Minenfelder sind nach wie vor ein riesiges Problem.
Muss sich der Westen darauf einstellen, dass die Ära Putin zu Ende geht, Russland implodiert?
Masala: Das ist noch nicht absehbar. Man kann nichts ausschließen, sollte aber auch nicht herumspekulieren. Wir werden erst in den nächsten Wochen und Monaten sehen, wie sich der interne Machtkampf entwickeln wird.
Stehen die Chancen für Friedensgespräche am Ende dieser historischen Woche besser oder schlechter?
Masala: Weder noch. Wir müssen die Ergebnisse der ukrainischen Gegenoffensive abwarten. Momentan gibt es keinen Raum für Gespräche.
Land | Ukraine |
Kontinent | Europa |
Hauptstadt | Kiew |
Fläche | 603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim) |
Einwohner | ca. 41 Millionen |
Staatsoberhaupt | Präsident Wolodymyr Selenskyj |
Regierungschef | Ministerpräsident Denys Schmyhal |
Unabhängigkeit | 24. August 1991 (von der Sowjetunion) |
Sprache | Ukrainisch |
Währung | Hrywnja |