Kiew. Wer ist der Mann, der jetzt die Gegenoffensive organisiert? Was General Saluschnyj von seinem russischen Gegenspieler unterscheidet.
Es war ein besonderer Abend im Juli 2021, der das Leben des 49-jährigen ukrainischen Generals Walerij Saluschnyj für immer veränderte. Bei der Geburtstagsfeier seiner Frau trank er gerade ein Bier, als sein Handy klingelte. Es war der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj persönlich, der ihm überraschend den Job des Befehlshabers der Armee anbot. „Dieser Anruf war für mich nicht nur ein Tiefschlag. Das war ein K.o.“, beschreibt Saluschnyj diesen Moment später in einem seiner seltenen Interviews. Den Job nahm er trotzdem an – in einer schon damals spannenden Zeit, in der Russland seine Kräfte bereits seit ein paar Monaten an der ukrainischen Grenze konzentrierte.
So wurde Walerij Saluschnyj, der aus einer Familie mit militärischer Tradition aus dem Bezirk Schytomyr westlich von Kiew stammt, zum ersten Befehlshaber in der Geschichte der ukrainischen Streitkräfte, der keinen einzigen Tag in der sowjetischen Armee gedient hatte. Aber: „Natürlich war unsere Armee in den 90ern noch sowjetisch geprägt. Und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es gar keine Überreste von diesem Sowjetismus mehr gibt“, schränkt Saluschnyj in einem ukrainischen Dokufilm zum ersten Jahrestag der großen russischen Invasion ein.
General Saluschnyj: Ende vierzig, fließendes Englisch
Kaum jemand verkörpert so sehr wie Saluschnyj, der anders als frühere Generäle der Ukraine fließend Englisch spricht, die Tatsache, dass es bei diesem Krieg nicht zuletzt um den Clash zwischen den Generationen, um den Kampf zwischen Vergangenheit und Zukunft geht. Der ukrainische Präsident Selenskyj ist 25 Jahre jünger als der russische Präsident Wladimir Putin, Saluschnyj ist 18 Jahre jünger als sein Hauptgegner, der Chef des russischen Generalstabs Walerij Gerassimow. Dabei ist Gerassimow, der zu den Köpfen hinter der Strategie der sogenannten hybriden Kriesgführung zählt, einer der wenigen Generäle auf der russischen Seite, von denen Saluschnyj ausgesprochen viel hält. „Er ist ein sehr starker Feind“, sagt der Ukrainer ohne jede Ironie.
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Doch während die Armee von Gerassimow trotz aller Reformversuche in den Zeiten des Präsidenten Dmitrij Medwedew eine veraltete, zentral organisierte Struktur hat, die bei Entscheidungen vor Ort nicht sonderlich flexibel ist, baut Saluschnyj, der seit 2014 in unterschiedlichen Führungsfunktionen im Donbass-Krieg reichlich Erfahrungen sammelte, eine Armee des 21. Jahrhunderts und damit eine Art Netzstruktur auf. So gehörte zu den allerersten Schritten Saluschnyjs als Befehlshaber die Erlaubnis für die Soldaten an der Frontlinie im Donbass, das Gegenfeuer ohne Zustimmung der obersten Führung zu eröffnen, um Verzögerungen zu verringern.
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Der General telefoniert mit der Eltern gefallener Soldaten
Vor allem aber gilt Walerij Saluschnyj als jemand, der den persönlichen Umgang innerhalb der Armee verändert hat. Der 49-Jährige unterhält sich nicht nur mit Kommandeuren, sondern telefoniert auch mit einfachen Soldaten an der Front. Er ruft die Eltern von gefallenen Soldaten ab und zu selbst an – und auch auf Beerdigungen ist Saluschnyj trotz aller Sicherheitsbedenken nicht selten zu sehen. Sein Credo: „Wenn wir über die Anpassung der ukrainischen Armee an die Nato-Standards sprechen, müssen Veränderungen vor allem in der Einstellung gegenüber den Menschen stattfinden.“
Eine andere Seite von Saluschnyjs Führungsstil zeigt eine Geschichte, die neulich von der ukrainischen Redaktion der BBC nacherzählt wurde. Als zwei Tage nach dem 24. Februar die Gefahr groß wurde, dass die russische Armee bald die Vororte von Kiew auf dem östlichen Ufer des Dnipro-Flusses erreichen könnte, wurde in der ukrainischen Regierung über die Sprengung der Brücken über den Dnipro diskutiert – um im Fall der Fälle ein natürliches Hindernis für die Russen auf dem Weg ins auf dem westlichen Ufer liegende Regierungsviertel zu schaffen. „Brücken sprengen? Auf gar keinen Fall. Das wäre ein Verrat an allen, die auf dem östlichen Ufer bleiben – sowohl für Militärs als auch für Zivilisten“, soll Saluschnyj auf die Idee des damaligen Chefs des Inlandsgeheimdienstes reagiert haben.
Saluschnyi wird mit den erfolgreichsten Generälen der Geschichte verglichen
Mit der erfolgreichen Verteidigung von Kiew, der Gegenoffensive im Bezirk Charkiw und der Befreiung von Cherson ist aus Saluschnyj eine international bekannte Persönlichkeit geworden, die bereits mit den erfolgreichsten Kommandeuren der Geschichte verglichen wird. Saluschnyjs Foto war auf dem Cover des Time Magazines im September 2022, er steht auf der Time-Liste der 100 einflussreichsten Personen der Welt.
In der Ukraine selbst wird gerne über die mögliche politische Zukunft von Saluschnyj diskutiert; seine Beliebtheitswerte liegen nicht weit von Selenskyj entfernt. Politische Ambitionen aber hat Saluschnyj noch nie gezeigt – und es ist schwer vorauszusehen, wie sich seine Beliebtheit entwickelt, sollte die von ihm sorgfältig geplante Sommeroffensive scheitern.
Ukrainische Militärexperten warnen unterdessen davor, die Erfolge ihrer Armee nur auf den Befehlshaber der Streitkräfte zu reduzieren, mehr noch: Dass diese nicht von ihm persönlich abhängen, sehen sie eigentlich als Saluschnyjs größten Verdienst. „Der moderne Krieg ist eine zu komplizierte Angelegenheit. Er kann nicht nur von einer Person abhängen“, scheibt der prominente Analyst Mykola Beleskow auf Facebook. „Das ist eine Nuance, die Saluschnyj selbst als Erstes bemerkt hätte, wenn er mehr Zeit für Kommunikation mit Journalisten hätte.“
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