Berlin. Der Glaube an Engel boomt, viele bezahlen sogar viel Geld für einen Draht nach oben. Experten erklären, ab wann das gefährlich wird.
Man kann sie nicht sehen, aber so sind Engel eben. Diese himmlischen Wesen, die ihren Schützlingen in allen Lebenslagen zur Seite stehen – ob in der Liebe, im Job oder beim Anlegen eines Gartenteichs –, gehören zur schnellen Eingreiftruppe für Menschen, die geistigen Beistand brauchen. Längst haben Erz- und Schutzengel den lieben Gott alt aussehen lassen. Die Deutschen sind im Engelfieber. Jeder Zweite habe schon mal Kontakt zum Engel gesucht, besagen Studien. Und der Religionspsychologe Sebastian Murken sagt das auch. „Engel liegen ganz eindeutig im Trend.“
Mit Engeln konnte man schon immer Eindruck schinden. Mal eben eine Kunstkarte mit den Raffael-Putten an den Herzallerliebsten verschickt, da war die Botschaft doch klar: Wer was auf sich hält, glaubt auch daran, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde.
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Engel, so sagt der Religionsforscher, haben etwas Niederschwelliges. Kein zürnender Gott eben, der auch nicht mehr so gefragt ist. Der Glaube an Gott hat ohnehin stark nachgelassen: Laut „Religionsmonitor 2023“ der Bertelsmann-Stiftung glaubt mit 38 Prozent nur noch eine Minderheit stark an Gott. Vor zehn Jahren sagte dies noch die Hälfte der Befragten.
Die Engel laufen also Gottvater den Rang ab. So ein himmlischer Alltagshelfer ist ja auch mal schnell angerufen: Janine (21) aus Wesel zum Beispiel steigt in kein Auto, bevor sie nicht den Blick zum Himmel gerichtet und „mal ganz kurz meinen Schutzengel angefleht habe, damit mir bloß keiner meinen Parkplatz vor dem Büro wegschnappt“. Für Murken ganz normal: „Jeder hat seinen Schutzengel untrennbar an der Seite. Das ist ein ganz anderes Modell als ein Gott, der gleichzeitig und übermächtig überall sein soll.“
Mit der Oracle-Karte den Engel kontaktieren
Den Schutzengeln müssten die Ohren klingeln, so sehr sind sie im Gespräch. Im Netz jagt eine Engelmeditation die nächste. Und verspricht uns Bewusstseinserweiterung. In Hellblau zum Beispiel ploppt ein Angebot auf, um den Engel per Kartenlegen zu kontaktieren: „Dein Engel will mit Dir reden“, heißt es von „Frau Luna“. „Ziehen Sie eine Karte“. Man darf wählen zwischen Themen wie Liebe und Beziehung, Geld, Gesundheit. Okay, wie wär es also mal mit Geld?
„Frau Luna“ will ihr „Bestes tun, um einen mit dem Erzengel zu verbinden, um Klarheit in dieser Angelegenheit zu erlangen!“ Man soll jetzt auf Oracle-Karten drücken. Wird gemacht. Es kommen ein paar „hmms“ von „Frau Luna“ und am Schluss ein vieldeutiges „Die Zeichen häufen sich“ und das Versprechen, alles Weitere in einer Mail zu schicken.
So sollen Engel bei der Suche nach Balance helfen
Alles Hokuspokus? Nun, darunter fällt ja vieles, das sich auch gut vermarkten lässt: Ratgeber zu Meditationen aller Art finden einen Millionenabsatz. Das Besondere an den Engeln: Sie lassen sich auch hübsch verschenken – Engel auf Tassen, Engel auf Shirts, Engel als Schlüsselanhänger.
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Die Zahl der Engel gilt übrigens als durchaus flexibel. „Es gibt so viele Engel, wie Du glaubst“, heißt es in Engelsforen im Netz. Und wer tiefer einsteigen will in die Materie, der kann ja einen Engelscoach buchen. Beratung oder Workshop. Alles ist möglich. Die Kosten pro Kurs schwanken. Mal 90 Euro, mal 160 Euro, mal 250 Euro.
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Ob online oder vor Ort in der Praxis der Mental- oder Engelscoaches treffen sich Menschen auf der Suche nach Balance. Manche wollen alte Lasten loswerden, viele aber einfach mal wieder ein bisschen auf Wolke sieben schweben, berichten Coaches. Frauen zeigten sich besonders interessiert, ist zu hören. Aber auch Männer ziehen nach. Ansonsten: querbeet. Alle Berufe seien vertreten. Jung wie Alt, die dann ins Coaching kommen, um – ja, um was eigentlich zu tun?
Engel: „Man muss einfach dran glauben“
Das lasse sich nicht so einfach sagen, meint Karin Himmelstein-Knipfer von Himmelstein-Consulting. Sie kommt aus der Kosmetikbranche und vom Yoga und ist auch als Engelscoach aktiv. Was genau passiert bei diesem Coaching? Es fallen Begriffe wie „andere Bewusstseinsebenen“. Konkret könne man das eben gar nicht sagen. Sie versucht es trotzdem: „Also, wir sitzen dann im Kreis in einer Achtergruppe und rufen die Engel beim Namen.“ Besonders gut sei der Erzengel Gabriel zu erreichen. „Er ist einer, der hilft, auch einer, der lustig ist.“ Wer sich jetzt im falschen Film fühlt und weiterfragt, wird auch nicht schlauer. Himmelstein-Knipfer lacht auch ein wenig verzweifelt ins Telefon und sagt: „Man muss einfach dran glauben.“
Der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Und „Toffifee“ schreibt im „Engelsforum“, dass auch so ein Vernunfttyp wie er für Engel offen sei: „Als Naturwissenschaftler bin ich zu absolut rationalem Denken verurteilt. Vieles, was ich erlebt habe, kann ich mir aber selber nicht erklären. Weder mit der Physik, der Medizin oder der Chemie.“
Aber dann hatte ihm mal ein Engel aus einer prekären Lage geholfen. Die Teilnahme bei der Marktforschung hat ihm 30 Euro eingebracht. Was der Engel damit zu tun hatte? Die Probanden hatten ein Namensschild mit einem Pseudonym erhalten. „Auf meiner Karte stand das Wort Engel. Ich war plötzlich so gerührt, dass ich am liebsten geheult hätte.“ Die Karte habe ich heute noch.
Expertin warnt vor Engelrausch
Es sei doch schön, wenn die Energie der Engel das Leben bereichere, sagt Stephanie Sapper. Auch sie ist Engelscoach, dazu gelernte Logopädin. „Ich stamme aus einer Ärztefamilie und schätze die Schulmedizin“, sagt sie, aber es gehe ja bei der Engelsenergie weniger um Krankheit, sondern um Lebensqualität. Heilung übrigens sei ein komplexes Geschehen.
Auch die Schulmedizin kenne die Macht der Selbstheilungskräfte, die auch durch die Kraft der Gedanken aktiviert werden könne. Und diese neue Stärke wirke sich dann eben auch auf den Körper aus. Das sei ein Baustein der Naturheilkunde. „Es ist also kein esoterischer Firlefanz“, so Sapper.
Allerdings gebe es auch Fälle, da würde die Beziehung nach oben eine ungesunde Übermacht gewinnen, so Uta Bange, Beraterin vom „Sekteninfo NRW“. Dann entstünde eine regelrechte Abhängigkeit bis hin zur . So etwas könne gefährlich werden. Wenn Angehörige merkten, dass sich die Betroffenen quasi in einen Engelrausch flüchten würden und ihre alltäglichen Dinge und sozialen Kontakte aufgeben, sollten sie sich Rat holen, zum Beispiel bei der „Sekteninfo“.
Manchmal fallen Engelscoaches vom Glauben ab — wenn die Pleite droht
Nicht nur der Glaube an Engel boome, auch die Coaching-Anbieter. Uta Bange sieht darin durchaus Gefahren für die Engelssucher. „Viele Anbieter haben gar keine richtige Coaching-Ausbildung und schon gar keine psychologische, therapeutische Ausbildung.“ Trotzdem würden sie psychologische Methoden anwenden, bei denen die Hilfesuchenden an ihre Grenzen geführt würden.
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Sie rät zur Vorsicht: Immer dann, wenn Heilung suggeriert werde, sollte man hellhörig werden. Angehörige bemerkten auch oft, dass sich ihre Lieben plötzlich komplett zurückziehen. Realitätsverlust könne schwere Folgen haben. Selbst die Coaches würden nach einer Bruchlandung bei ihr Rat suchen.
Viele würden den Boom nutzen, ihren Job hinwerfen und dann merken, dass ihnen die Klienten fehlen. Dann gehe es darum, diesen Verirrten wieder neue Kraft zu geben. Ganz irdisch müsse da manche Existenz neu aufgebaut werden. Von Engeln wollten sie dann nichts mehr wissen.