Essen. Wie kommt der gefährliche Weichmacher DnHexP in den Urin von Kindern? Und wie groß ist die Gesundheitsgefahr? Was wir bislang wissen.
Seit Monaten suchen Toxikologen und Behörden in Deutschland fieberhaft nach der Quelle einer Chemikalie, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Durch Zufall hatten Speziallabore im Urin von Kindern und Erwachsenen das Abbauprodukt des fruchtbarkeitsschädigenden Weichmachers DnHexP gefunden – ein Stoff, der in der EU seit Jahren verboten ist. Wie aber gelangte die gefährliche Chemikalie in den Körper? Und woher stammt sie? Die Spurensuche gleicht einem Krimi, viele Fragen sind offen. Eine Fährte führt nun zu Sonnenschutzmitteln. Was wir bislang wissen.
Wann und wo hat die Suche nach dem Weichmacher begonnen?
Im Herbst vergangenen Jahres fanden s Bochumer Speziallabors unter Leitung von Holger Koch erstmals in Urinproben von drei- bis sechsjährigen Kindern in Nordrhein-Westfalen den Stoff MnHexP. Die Substanz ist ein Abbauprodukt des fruchtbarkeitsschädigenden Weichmachers DnHexP, der in der EU seit Jahren verboten ist. Wird das Abbauprodukt im Urin nachgewiesen, hat der Betroffene den Weichmacher im Körper aufgenommen.
In welchen Proben wurde der Stoff gefunden?
Die Urinproben von Kindergarten-Kindern stammten aus Messreihen des NRW-Landesamtes für Umwelt, Natur und Verbraucherschutz. Die Experten untersuchten nach dem ersten Fund weitere Proben aus anderen Zeiträumen. Die Werte der Messreihe aus 2020/21 zeigten im Vergleich zu den Proben aus 2017/2018 eine bis zu zehnfache Zunahme der Konzentration. Über 60 Prozent der jüngeren Proben waren belastet. Öffentlich wurden die Weichmacher-Belastungen am 31. Januar 2024, als die NRW-Regierung die Funde bekannt gab.
Das Umweltbundesamt (UBA) analysierte daraufhin Urinproben von Erwachsenen, die aus der bundesweit laufenden deutschen Umweltstudie Gesundheit vorlagen. Auch hier wurden die Toxikologen fündig: In mehr als einem Drittel der 750 Proben wiesen sie das Abbauprodukt nach. Die Experten schätzten anhand der Daten, dass ein Drittel der Bevölkerung mit dem Weichmacher belastet sein könnte. Behörden schlugen EU-weit Alarm. Außer in Deutschland wurde der Weichmacher auch in Dänemark in Urinproben gefunden.
Unsere Berichterstattung zum Fund des verbotenen Weichmachers:
- Weichmacher im Urin: Toxikologen appellieren an Industrie
- Weichmacher bei Kindern gefunden: Was wir bislang wissen
- Weichmacher im Urin: Spur zu Sonnencremes verdichtet sich
- Weichmacher-Funde: Chemiekonzern BASF weist Verdacht zurück
- Weichmacher im UV-Filter: Erste Spur führt zu BASF
- Toxikologen wehren sich: Weichmacher-Fund nicht verschwiegen
- Weichmacher in Kinderurin: Ist es noch zu früh für Alarm?
- Weichmacher im Urin: Wurde der Stoff in die EU geschleust?
- Weichmacher im Kinder-Urin: Behörde schlägt EU-weit Alarm
Was ist über den gefährlichen Weichmacher bekannt?
Weichmacher (Phthalate) sind ein Verkaufsschlager der chemischen Industrie. Sie werden zugesetzt, um Materialien weich, biegsam oder dehnbar zu machen, etwa Kabel, Lebensmittelverpackungen, Fußbodenbeläge, Tapeten, Sport- und Freizeitartikel oder Kinderspielzeug. Auch in Kosmetik können sie enthalten sein. Phthalate dünsten aus, sie werden hauptsächlich eingeatmet und sind im Körper vieler Menschen nachweisbar. Kleinkinder nehmen sie vor allem im Mund aufgenommen.
Der nun nachgewiesene Weichmacher DnHexP zählt in der Stoffgruppe zu den Phthalaten, die am stärksten auf das Hormonsystem des menschlichen Körpers wirken. Tierversuche an Ratten zeigten, dass die Substanz und auch sein Abbauprodukt MnHexP die männliche Fruchtbarkeit sowie das ungeborene Kind im Mutterleib schädigen kann.
Der Weichmacher ist seit vielen Jahren in der EU stark beschränkt beziehungsweise verboten. Die EU-Behörden stuften DnHexP in die Kategorie der „besonders besorgniserregenden Stoffe“ (Substances of Very High Concern, SVHC) ein. Bei ihnen handelt es sich primär um Stoffe, die krebserzeugend, erbgutverändernd oder fortpflanzungsgefährdend sind. Seit 2019 darf der Stoff in der EU ohne Zulassung grundsätzlich nicht mehr verwendet werden. In der EU-Kosmetikverordnung ist die Substanz seit 2019 als „verbotener Stoff“ aufgeführt.
Wie kam es, dass der Weichmacher in Sonnenschutzmitteln gefunden wurde?
Das Umweltamt hatte bereits früh eine Spur zu Sonnenschutzmitteln und kosmetischen Pflegeprodukten vermutet. So hatten UBA-Toxikologen festgestellt, dass die Werte der Belastungen insbesondere im Sommer und zur Skisaison anstiegen. Auch die Behörden in NRW fanden Hinweise: Die Eltern der Kita-Kinder hatten am Tag der Probenahme in Fragebögen unter anderem angegeben, ob ihr Kind an diesem Tag oder an den beiden Tagen davor Sonnenschutzprodukte benutzt hatte. Bei Kindern, die Sonnencreme auf der Haut hatten, wurden um ein Vielfaches erhöhte Belastungen festgestellt als bei Kindern, die sich nicht eingecremt hatten.
In Baden-Württemberg wies das Untersuchungsamt in Karlsruhe erstmals den Weichmacher in Sonnenschutzmitteln nach. 21 von 57 Proben waren mit der Substanz belastet. In 40 der 57 Sonnenschutzmittel war der UV-Filter DHHB enthalten.
Was hat es mit dem möglicherweise verunreinigtem UV-Filter auf sich?
Toxikologen und Behörden halten es für möglich, dass bei der Herstellung des UV-Filters DHHB der Weichmacher als Nebenprodukt entstehen und möglicherweise das Endprodukt belasten kann. Der Chemiekonzern BASF hat das Verfahren zur Herstellung der Substanz entwickelt, hielt und hält seit 2003 zu diesem UV-Filter mehrere Patente. BASF vertreibt den UV-Filter DHHB unter dem Namen Uvinul A Plus. Der Konzern ist nach eigenen Angaben der weltweit führende Anbieter von Inhaltsstoffen, die in Produkten für den UV-Schutz eingesetzt werden.
In den Patentschriften von 2021 und 2023 merkt BASF selbst anr, dass bei der Produktion des UV-Filters DHHB unvermeidbar der Weichmacher DnHexP als Nebenprodukt entstehe. Die Verunreinigung müsse mit viel Aufwand entfernt werden, das gelinge jedoch nicht immer vollständig. Weiter heißt es, der Gehalt an DnHexP solle so gering wie möglich gehalten werden soll, da die Substanz die Fruchtbarkeit und das ungeborene Kind schädigen könne. BASF weist den Verdacht zurück, dass ein verunreinigter Filter die Quelle der Belastungen sei. Der Konzern sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Fund des Weichmachers DnHexP in Sonnenschutzmitteln und den belasteten Urinproben von Kindern und Erwachsenen. BASF ist nicht der einzige Hersteller des UV-Filters. Ob auch Filter anderer Hersteller möglicherweise ein Verunreinigungsproblem haben, ist aktuell nicht bekannt.
Wie kann ich wissen, ob in meiner Sonnencreme der UV-Filter DHHB enthalten ist?
DHHB ist der chemische Name des Filters, ausgeschrieben heißt die Substanz Diethylamino hydroxybenzoyl hexyl benzoat. Dies muss in der Zutatenliste, die auf dem kosmetischen Produkt aufgedruckt ist, enthalten sein, falls der UV-Filter hinzugefügt wurde. Der UV-Filter kann außer in Sonnenschutzmitteln auch in kosmetischen Pflegeprodukten wie Anti-Aging- oder Anti-Falten-Cremes sowie in Parfüms beigefügt sein.
Was mache ich, wenn ich ein Kosmetikprodukt gekauft habe, das den Filter DHHB enthält?
Das Umweltbundesamt und das Bundesamt für Risikobewertung (BfR) raten Verbraucher dringend davon ab, aus Furcht vor Weichmachern auf Sonnencremes zu verzichten. „Sie schützen vor Sonnenbränden und Hautkrebs“, sagt UBA-Toxikologin Marike Kolossa. „Unsere Erkenntnisse reichen zu diesem Zeitpunkt nicht für eine Maßnahmenempfehlung.“ Da sich aber mehrere Weichmacher im Körper untereinander in ihrer Wirkung verstärken können, könnten Verbraucher, die sichergehen wollen, Produkte ohne den UV-Filter DHHB wählen.
Wie bewerten Experten das Gesundheitsrisiko?
Die Human-Biomonitoring-Kommission am Umweltbundesamt hat nach Beratungen mitgeteilt, dass von den Spuren des Weichmachers im Urin keine akute Gesundheitsgefahr ausgehen. Erstmals legten die Experten einen gesundheitsbezogenen Beurteilungswert für das Abbauprodukt des Weichmachers fest. Bis zu einem Wert von 60 Mikrogramm pro Liter Urin sei nach aktuellem wissenschaftlichem Kenntnisstand nicht mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung des Menschen durch diesen Stoff zu rechnen, teilte die Kommission mit. Die rund tausend Urinproben in Deutschland, in denen bislang Belastungen nachgewiesen worden waren, liegen demnach ohne Ausnahme unter diesem Wert. In ihrer Stellungnahme näherten sich die Experten damit der Einschätzung des Bundesinstituts für Risikobewertung an. Auch dieses Gremium sieht kein unmittelbares Gesundheitsrisiko.
Wie sicher ist die Einschätzung der Experten?
Toxikologen weisen darauf hin, dass die Datenlage lückenhaft und viele Fragen offen seien. Das BfR selbst merkt an, dass die Bewertung sei aus mehreren Gründen mit Unsicherheiten belastet sei. Eine Risikobewertung des Stoffes sei für den EU-Markt bislang noch nicht durchgeführt.
„Für reproduktionstoxische Stoffe gilt ein Minimierungsgebot. Die Belastung mit solchen Stoffen sollte so niedrig wie möglich sein“, sagte Martin Kraft, Leiter des Fachbereichs Umweltmedizin, Toxikologie und Epidemiologie des Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz in NRW. „Entwarnung kann auf keinen Fall gegeben werden. Wir kennen ja auch noch nicht die aktuelle Belastung der Kinder in NRW.“
Ist die Quelle der Weichmacher-Belastung somit bekannt?
Die Experten-Kommission am Umweltbundesamt sieht ausreichende Hinweise dafür, dass verunreinigte Sonnenschutzmittel „maßgeblich“ zu den beobachteten Belastungen im Urin beigetragen haben könnten. „Die Kommission Human-Biomonitoring empfiehlt deshalb dringlich, Maßnahmen zu ergreifen, die eine Verunreinigung durch DnHexP in Sonnenschutzmitteln und Kosmetika ausschließen oder zumindest so weit wie möglich minimieren“, teilte das UBA mit.
Das BfR teilte hingegen mit, dass weiter ungeklärt sei, welche Produkte oder Quellen verantwortlich seien. In einer Recherche habe das BfR Studien ermittelt, nach denen der Weichmacher DnHexP auch in Hausstaub (Slowenien, 2015), Kinderspielzeug (Türkei, 2019) und in Kinderkleidung aus asiatischen Ländern (2020) gefunden wurde.