Bad Berleburg. Wildbiologe Uwe Lindner erhebt schwere Vorwürfe gegen Kreis Siegen-Wittgenstein: Tiere würden gezielt abgeschossen. Was der Kreis dazu sagt.

Über das „rätselhaftes Kälbersterben“ und die Blauzungenkrankheit in der Wisentherde in Bad Berleburg berichtete diese Zeitung am 17. Oktober. Jetzt kommen schwere Vorwürfe des ehemaligen Projektleiters des Artenschutzprojektes hinzu. Wildbiologe Uwe Lindner wirft dem Kreis Siegen-Wittgenstein in einem Brief an die Redaktion vor, dass aktuell Bullen aus der Herde gezielt abgeschossen werden, um die Zahl der Tiere zu regulieren. Lindner beruft sich dabei auf Aussagen von Zeugen, die er namentlich nicht nennt. Den Kreis Siegen-Wittgenstein macht er verantwortlich, weil dieser als Untere Naturschutz- und Veterinärbehörde die Aufsicht über die Tiere hat.

Der Kreis Siegen-Wittgenstein weist die Vorwürfe entschieden zurück. Ob sich der Kreis rechtliche Schritte gegen Lindner vorbehält, dazu wollte der Sprecher des Kreises Siegen-Wittgenstein auf Nachfrage nichts sagen.

Wildbiologe Uwe Lindner.

„Vermutlich will man aber die aktuelle Anzahl der Tiere nicht benennen, denn dann müsste man erklären, wohin einige Tiere verschwunden sind.“

Uwe Lindner
Ehemaliger Leiter des Wisentprojektes

Lindner beruft sich zunächst auf die Berichterstattung über das Kälbersterben und die Blauzungenkrankheit: „Nach dem Lesen habe ich wieder das Gefühl, dass man die Leute für dumm verkaufen will. Der Kreis widerspricht dem BUND, dass sich die Tiere auffällig verhalten. Dass sich das Verhalten der Wisente geändert hat, ist auch mir aufgefallen. Die anfängliche Gelassenheit zu Beginn der Eingatterung – die Tiere machten sich kaum die Mühe aufzustehen und nachzuschauen, wer da kommt – ist verschwunden. Die Tiere stehen jetzt sofort auf, schauen in Richtung Störungsquelle, machen einen nervösen Eindruck und sind fluchtbereit. Was ist passiert? Die Bullen wurden vom Rest der Herde getrennt, was eine sinnvolle Managementmaßnahme ist. Doch dies kann nicht die Ursache sein. Die Verhaltensänderung ist leicht verständlich, wenn man weiß, dass mit der letalen Entnahme von Tieren begonnen wurde.“

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Lindners Kronzeuge sagt keine Zahl, behauptet aber, dass einige getötet worden sein sollen. Für den Wildbiologen ist der Fall klar: „Vermutlich hat man die Anzahl der Bullen reduziert. Man könnte dies als vertretbare Managementmaßnahme ansehen. Doch der Kreis hat nur die Notverwaltung der Tiere übernommen und es gibt ein laufendes Rechtsverfahren zur Freisetzung der Tiere. Sollte der BUND und damit die Wisente Recht bekommen, könnten die Wisentabschüsse ein Nachspiel haben. Auch aus fachlicher Sicht ist der wahllose Abschuss von Tieren unprofessionell. Bevor man irgendwelche Tiere einer geschützten Art letal entnimmt, hätte man den Wert der einzelnen Tiere für die Arterhaltung bestimmen müssen.“

„Aus der Herde wurden keine Tiere entnommen, weder letal noch auf andere Art und Weise. Es sind auch keine Tiere ‚in einer Tiefkühltruhe gelandet‘.“

Torsten Manges
Pressesprecher des Kreises Siegen-Wittgenstein

Seine Vorwürfe von der letalen Entnahme stützt Lindner auch darauf, dass der Kreis gegenüber dieser Zeitung die aktuelle Zahl der Tiere im Gatter nicht angegeben habe. „Vermutlich will man aber die aktuelle Anzahl der Tiere nicht benennen, denn dann müsste man erklären, wohin einige Tiere verschwunden sind. Vor dem Abschuss der Tiere gab es wohl eine Lebendschau, somit ist zu vermuten, dass einige Tiere in der Tiefkühltruhe gelandet sind.“

Dem widerspricht der Sprecher des Kreises Siegen-Wittgenstein, Torsten Manges entschieden: „Aus der Herde wurden keine Tiere entnommen, weder letal noch auf andere Art und Weise. Es sind auch keine Tiere ‚in einer Tiefkühltruhe gelandet‘“.

Faktencheck: Exportierte und getötete Wisente

Lindner argumentiert in seinem Brief aber auch mit Zahlen, die so nicht stimmen. Das zeigt ein Faktencheck der Westfalenpost. Laut Lindner sei „in der ganzen Zeit - wir sprechen hier von 20 Jahren - wurde nach meinem Kenntnisstand nur ein Tier nach Rumänien in ein dortiges Wiederansiedlungsvorhaben abgegeben.“ Tatsächlich aber sind vor allem Tiere aus dem Schaugehege abgegeben worden. Neben einem Fall, den Lindner auch nennt: Im September 2014 war die Wisentkuh Gutelaune mit ihren beiden Jungstieren Quick (14 Monate) und Quattro (24 Monate) an ein Auswilderungsprojekt nach Lettland vermittelt worden. Gibt es noch weitere dieser Wisentexporte? Allerdings, aus dem Schaugehege des Projektes. Am 9. Mai 2018 sind vier Bullen aus dem Besucherareal der Wisent-Wildnis in Wingeshausen, Quambo (geboren 2014), Quinn (2016), Quentin (2014) und Quax (2014) in ein Auswilderungsprojekt im siebenbürgischen Poieni gebracht worden. Im Juni 2021 wurden die Jungbullen Quill und Quandro aus dem Schaugehege in neue Projekte überführt. Quandro ins Donaumoos und Quill in die Karpaten.

„Getarnt als Managementmaßnahme wurden aber etliche Tiere abgeschossen. In einem Jahr waren es sogar fünf Tiere“, schreibt Lindner. Diese Zahlen lassen sich so nicht belegen. Tatsächlich gibt es aber viele Todesfälle in der frei lebenden Herde. Sechs Wisentbullen in sieben Jahren starben, fünf davon wurden nach Recherchen dieser Zeitung Opfer von Rangkämpfen mit ihrem eigenen Vater oder mussten wegen schwerer Verletzungen von ihren Leiden erlöst werden: 2010 hatte Leitbulle Egnar im Auswilderungsgehege den zweijährigen Rivalen „WA_75“ laut Obduktionsergebnis „mit massiven Hörnerstößen“ im Kampf getötet. 2013 wurde der Jungbulle Quandor per Fangschuss von Leiden erlöst. Auch hier waren Egnars Hörner die Ursache. 2015 wurde der vermisste Jungbulle Quincy tot in einem Bachbett gefunden. Die Todesursache blieb unklar. 2016 wurde bei Latrop ein Jungbulle erlöst, der sich bei einem Sturz einen Abhang hinunter schwer verletzt hatte. Ob ein Rangkampf die Ursache war, ließ sich nicht klären. 2017 fanden die Ranger den Kadaver eines bei Rangkämpfen zuvor verletzten Jungbullen in Schüllar. Im selben Jahr entdeckten Wanderer am Rothaarsteig zwischen Fleckenberg und Wingeshausen einen etwa zweijährigen Bullen, der nach einem Hörnerstoß verendet war. Der alternde Leitbulle Egnar wurde 2019 geschossen, nachdem er selbst in Rangkämpfen mit einem seiner Söhne schwer verletzt worden war. Ebenfalls 2019 wird eine Wisentkuh bei einem Verkehrsunfall in Hoheleye tödlich verletzt.

2022 wurde im Westerwald in Rheinland-Pfalz ein schwer verletzter Bulle aus Wittgenstein gefunden und erlöst. Offenbar litt er an einer alten Schussverletzung im Knie. Im selben Jahr wurde Wisentkuh Quelle getötet werden. Die erste bekannte Flaschenaufzucht durch Menschen, zeigte aggressives Verhalten gegenüber Menschen.

Lindner schwächt in seinem Brief an die Redaktion seine Argumentation selbst, in dem er seine eigenen Zahlen vorlegt: „Gezählt wurden beim letzten Gehegebesuch 32 Tiere, davon waren elf Bullen. Das Gehege ist unübersichtlich, somit könnten sich hinter den Hügeln noch mehr Tiere aufgehalten haben.“

Der Kreis Siegen-Wittgenstein erläutert den Verbleib der Tiere damit, dass die Herde innerhalb des Geheges getrennt worden ist: „Die männlichen Tiere – bis auf zwei wahrscheinlich noch nicht geschlechtsreife jüngere Bullen – sind von der Herde in einen eigenen, abgegrenzten Teil des Geheges separiert worden, um ein weiteres Anwachsen der Herde generell und weitere Inzuchtvermehrungen verhindern zu können. Dies führt bislang zu keinen Verhaltensauffälligkeiten bei den Tieren“, antwortet Torsten Manges auf die Fragen der Redaktion. Und speziell zu Lindners Zählung sagt er: „Die Zahl der Tiere ist aus den schon in der letzten Woche genannten Gründen aktuell nicht abschließend verlässlich feststellbar. Die von Herrn Lindner genannte Zahl ist allerdings definitiv falsch.“

Für den Wildbiologen Uwe Lindner liegt die Verantwortung für die „desaströsen Situation der ehemals frei lebenden Wisente im Rothaargebirge“ beim Vorstand des in Auflösung begriffenen Trägervereins Wisent-Welt-Wittgenstein um Bernd Fuhrmann „und alle, die sie dabei unterstützt bzw. nicht am Weitermachen gehindert haben“. Dazu zählten laut Lindner auch die Kreisverwaltung Siegen-Wittgenstein, der Landrat Andreas Müller als Vorsitzenden der Projektsteuerungsgruppe. „Auch das Veterinäramt ist nicht frei von Schuld, da es aus meiner Sicht seine Aufsichtspflicht vernachlässigt hat.“

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Für Lindner sind die Folgen des nach zehn Jahren gescheiterten Wiederansiedlungsprojektes im Rothaargebirge klar: „Der artenschützerische Beitrag des Projektes ist nicht nur mit null zu bewerten, sondern im negativen Bereich anzusiedeln. Der Misserfolg dieses so beispielhaften Projektes wird wahrscheinlich dafür sorgen, dass es so schnell keinen weiteren Wisent-Wiederansiedlungsversuch in Deutschland geben wird.“

Lindner gehört zu den Unterstützern der Klage des Bundes für Umwelt und Naturschutz, der eine sofortige erneute Freilassung der Wildrinder fordert. „Eine kleine Chance gibt es noch, dass den Wisenten ihr Recht auf Freiheit zugesprochen wird. Dafür bin ich dem BUND von Herzen dankbar, denn nur solche Institutionen können im Gegensatz zu Privatpersonen den Klageweg beschreiten.“

Viele Fotos: So leben die wilden Wisente nun im Gatter

Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
Seit Februar 2024 müssen die einst wilden Wisente aus dem Rothaargebirge in einem Gatter nahe Bad Berleburg leben. Am Montag, 1. Juli, gab es erstmals Einblicke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Wisente bei Bad Berleburg.
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Wisente bei Bad Berleburg.
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Wisente bei Bad Berleburg.
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Wisente bei Bad Berleburg.
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