Littfeld. Viel Gegenwart in den Ansprachen: Der Ton wird rauer, sagt José Sobrino Ramirez. Antisemitismus ist nicht Geschichte, sagt Regina Tanger.

Die Stolpersteine vor der Bäckerei in der Hagener Straße sind poliert, dazu haben die jungen Besucher des örtlichen Jugendtreffs Glonk eine Rose gelegt. Das tun sie jedes Jahr am 28. Januar. Vor 80 Jahren haben Soldaten der sowjetischen Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreit. „Etwa zu dieser Uhrzeit“, sagt Bürgermeister Walter Kiß, als er am Montagnachmittag die Gedenkfeier oben in der Grubenstraße eröffnet. Unter den 7000 Häftlingen, die bis dahin überlebt hatten, war Fred Meier nicht mehr.

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„Er war erst drei Jahre alt“, sagen Samira und Thalia, die mit Jugendtreffleiterin Jessica Gießer ans Rednerpult getreten sind. „Er wurde ermordet, nur weil er Jude war.“ Für die elfjährigen Mädchen liegt das, woran die Littfelder auf dem Platz vor dem Feuerwehrgerätehaus erinnern, der seit 1983 Fred-Meier-Platz heißt, unendlich weit zurück. „Das Lager hieß Auschwitz“, berichten sie, der Name des Ortes geht ihnen nur schwer über die Lippen. Um so gegenwärtiger ist für sie aber das, was dem kleinen Fred und seiner Familie widerfahren ist. Sie erleben es heute selbst: „Auch heute müssen Menschen vor Krieg und Verfolgung fliehen. Oft werden sie nicht freundlich empfangen. Es fängt an mit bösen Worten....“

Gedenken auf dem Fred-Meier-Platz in Littfeld
Thalia (links) und Samira, begleitet von Glonk-Leiterin Jessica Gießer, berichten vom Schicksal Fred Meiers und seiner Familie. © WP | Steffen Schwab

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„Scheußlich“ habe die Wurst von den Meiers geschmeckt, berichtet das Nazi-.Hetzblatt „Der Stürmer“ 1934 nach einer Feuerwehrübung. „Kein Wunder auch: Sie war von den Judenmetzgern.“ Zwei jüdische Metzgereien gab es in Littfeld: die von Raphael Meier, der mit Frau und Schwester 1942 deportiert wurde. Und die von Adolf Meier, Freds Großvater. In ihrem Haus befand sich auch ein Gebetsraum. Beide Familien sind Ende des 18. Jahrhunderts nach Littfeld gekommen.

„Wir nehmen uns vor, es nicht noch einmal so weit kommen zu lassen“, sagt Bürgermeister Walter Kiß in seiner Ansprache. Dieser Wille werde „zum Glück“ von vielen geteilt, zuletzt am Samstag auch in der großen Demonstration in Siegen ausgedrückt. Die Gedenkstunde in Littfeld wird am Montag kein Ort zum bloßen Erinnern. Dazu ist die Vergangenheit auf einmal wieder zu gegenwärtig. „Unsere Gesellschaft wird gespalten und gegeneinander aufgehetzt“, sagt Walter Kiß, „menschenfeindliches Gedankengut wird inzwischen ohne jede Zurückhaltung verbreitet.“ Phantasien von „Remigration“ dürften nicht gesellschaftsfähig werden. Wer die in den letzten Tagen von Migranten begangenen Verbrechen politisch ausschlachte, „der instrumentalisiert die Opfer und versündigt sich an der Gesellschaft.“ Das Schicksal von Fred und seiner Familie sollten Mahnung sein.

Gedenken auf dem Fred-Meier-Platz in Littfeld
Der Posaunenchor des CVJM Buschhütten umrahmt die Gedenkfeier. © WP | Steffen Schwab

Minna und Siegfried Meier sind die Eltern von Fred. Der Krombacher Bürgermeister nimmt Silvester 1939 auf dem Blatt 99 des Geburtenregisters die letzte Eintragung des Jahres vor. Sie betrifft Fred Meier, der eine Woche zuvor geboren worden ist. Wunschgemäß trägt er für das Baby den Namen Fred ein. Er vergisst auch nicht den seit 1938 obligatorischen „Zweitnamen“, den die Nazis allen männlichen Juden aufzwangen: Israel. Weil Fred aber kein jüdischer Vorname ist, wird der Eintrag auf Weisung der Gestapo am 25. Mai 1940 geändert. Aus Fred wird „Berl“. „Jüdche! Jüdche“, sollen die Kinder dem kleinen Fred hinterhergerufen haben.

„Unsere Aufgabe ist es, Brücken zu bauen.“

José Sobrino Ramirez, Integrationsbeirat
Gedenken auf dem Fred-Meier-Platz in Littfeld
José Sobrino Ramirez, Integrationsbeirat © WP | Steffen Schwab

„Der Ton wird rauer“, sagt José Sobrino Ramirez, Vorsitzender des Kreuztaler Integrationsbeirates, „die Feindseligkeit gewinnt an Präsenz.“ Er beobachte Abstumpfung gegenüber rechtsradikalen Äußerungen. „Gewahrsamszentren“ an den Grenzen würden in Wahlprogrammen gefordert, der neue Präsident schließe militärische Gewalt nicht aus, um Grönland, Kanada und den Panamakanal in den Besitz seines Landes zu nehmen. „Die Parallelen zur Vergangenheit sind erschreckend deutlich.“ José Sobrino Ramirez hat Hoffnung: „Kreuztal zeigt, dass harmonisches Miteinander möglich ist.“ Auch der Integrationsbeirat werde dazu beitragen. „Unsere Aufgabe ist es, Brücken zu bauen.“

„Antisemitismus ist nicht Geschichte.“

Regina Tanger, Gesellschaft für christlich jüdische Zusammenarbeit
Gedenken auf dem Fred-Meier-Platz in Littfeld
Regina Tanger, Gesellschaft für christlich jüdische Zusammenarbeit. © WP | Steffen Schwab

Am 28. Februar 1943 gehen Minna und Siegfried Meier den schweren Weg zum Littfelder Bahnhof, ihren dreijährigen Sohn Fred schieben sie in einer Schubkarre vor sich. Noch am Bahnsteig entreißt ein SS-Mann den Jungen seiner Mutter. Es ist nicht genau überliefert, ob die Familie getrennt oder zusammen ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurde.

Regina Tanger, Gemeindereferentin im katholischen Pastoralverbund Nördliches Siegerland, spricht für die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. „Antisemitismus ist nicht Geschichte.“ Sie ruft dazu auf, gegen Hass und Hetze aufzustehen. „Ich bekomme Angst, wenn solche Gedanken aus der bürgerlichen Mitte geäußert werden.“ Es liege in der Verantwortung der jetzt Lebenden, mit der Erinnerung an Fred Meier und seine Familie die Hoffnung auf eine bessere Welt zu verbinden. „Unsere Pflicht ist es, dafür zu sorgen, dass die Stimmen der Opfer niemals verstummen.“

Gedenne an Fred Meier in Littfeld
Hier haben Fred Meier und seine Familie gelebt, bis sie von den Nazis ermordet wurden. Stolpersteine erinnern.  © WP | Steffen Schwab

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, sage Samira und Thalia. Fred Meier, der heute ein alter Mann von 85 Jahren wäre, ist nicht vergessen. Das Straßenschild auf dem Fred-Meier-Platz berichtet über sein Schicksal. Und der golden glänzende Stein im Bürgersteig vor der Bäckerei, die einst Metzgerei war: an Fred, seine Eltern Siegfried und Minna Meier, seinen Onkel Hugo und seine Großtante Sarah. Man weiß nicht, wann Fred, der Heiligabend 1939 geboren wurde, in Auschwitz vergast worden ist. Das Amtsgericht Siegen legt am 14. Juli 1959 als Sterbedatum den 8. Mai 1945 fest. Den Tag, an dem der zweite Weltkrieg zu Ende war.

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