Siegen. Werden Menschen todkrank, stehen oft grundlegende Entscheidungen an. Am Klinikum Siegen hilft das Ethikkomitee Angehörigen und Belegschaft dabei.

Wird dieses Team eingeschaltet, geht es oft buchstäblich um Leben und Tod; um existenzielle Fragen, die im Krankenhausalltag zwangsläufig auftreten. Damit Patientinnen und Patienten, ihre Angehörigen, aber auch das Personal damit nicht alleine gelassen werden, gibt es am Klinikum Siegen ein Ethikkomitee. Es bietet Hilfe an, wenn die Tragweite von Entscheidungen einen einzelnen Menschen überfordert.

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„Was ist machbar, was ist sinnvoll?“, sei eine häufige Fragestellung, wenn der Zustand eines erkrankten Menschen ein kritisches Niveau erreicht hat, erläutert Sabine Sieler. Sie ist Vorsitzende des KEK, des „Klinischen Ethikkomitees“. Seit zwei Jahren leitet sie am Klinikum Siegen das Qualitäts- und Risikomanagement, davor hat sie rund 30 Jahre als Intensivschwester gearbeitet. Sie weiß, wovon sie redet, wenn sie von „wichtigen medizinischen und moralischen Entscheidungen am Lebensende“ spricht. Alle Mitglieder des KEK wissen es, jedes aus seiner jeweiligen Perspektive. Um eine möglichst differenzierte Gesamtsicht zu bekommen, sind in der 20-köpfigen Runde Vertreterinnen und Vertreter aller beteiligten Berufsgruppen vertreten.

„Die Grundlagen sind die Erhaltung der Menschenwürde, Lebensschutz, Persönlichkeitsrechte, Selbstbestimmung.“

Sabine Sieler, Vorsitzende des Klinischen Ethikkomitees am Klinikum Siegen, über die Arbeit des Gremiums.

Klinikum Siegen: Patientenwille ist bei Entscheidungen im Krankenhaus der Maßstab

Patientinnen und Patienten können sich an das KEK wenden, ebenso ihre Angehörigen und alle Mitarbeitenden, wenn es Konflikte, Unklarheiten, Vermittlungsbedarf gibt. Können die Erkrankten sich selbst äußern, werden manche Dinge einfacher, sagt Sabine Sieler. Etliche können das allerdings nicht mehr, ihre Verfassung lässt es nicht zu. Dann geht es darum, den mutmaßlichen Willen des Patienten oder der Patientin zu ermitteln. Viele hätten zwar eine Patientenverfügung, „aber viele davon sind schlecht“, merkt die Fachfrau an: veraltet, zu unpräzise, für den konkreten Fall nicht passend. Das Gespräch mit den Angehörigen sei dann die wesentliche Quelle, auch die Einschätzung des Pflegepersonals sei aber zu hören. Oft seien die Betroffenen wochen-, manchmal monatelang im Krankenhaus bekannt. „Die Pflegekräfte sind in dieser Zeit am Bett“, sagt Sabine Sieler. „Sie wissen viel, kriegen viel mit.

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Wird das KEK kontaktiert, kann es ein Ethikkonsil einberufen. An diesen Runden nehmen alle teil, die mit dem Patienten oder der Patientin zu tun haben: Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachabteilungen, Pflegekräfte, Physiotherapeutinnen und -therapeuten, vielleicht Vertreterinnen und Vertreter des Sozialen Dienstes – weil es sich immer um konkrete, individuelle Einzelfälle handelt, sind auch die Konsile jeweils unterschiedlich besetzt. Ein Ethikberater oder eine Ethikberaterin des KEK kommt hinzu, denn das Komitee soll „als neutrale Instanz“ moderieren und begleiten, erläutert Sabine Sieler, „die Grundlagen sind die Erhaltung der Menschenwürde, Lebensschutz, Persönlichkeitsrechte, Selbstbestimmung“. Es können Konflikte zugrunde liegen, etwa, wenn die Angehörigen wollen, dass für den Patienten oder die Patientin wirklich alles getan wird, was medizinisch und technisch denkbar wäre. „Aber ist das auch der mutmaßliche Patientenwille? Und ist die weitere, unter Umständen eskalierende Therapie medizinisch angezeigt mit der gewünschten Lebensqualität?“, beschreibt Sabine Sieler die Abwägungen, die Ärzte und Pflegende treffen müssten.

Unterstützung für Alle

Das „Klinische Ethikkomitee (KEK) ist seit 2010 eine feste Einrichtung am Klinikum Siegen. Über die Besprechungen konkreter Fälle hinaus beschäftigt es sich auch mit anderen ethsichen Fragestellungen, die im Krankenhaus auftreten.

Alle drei Monate gibt es regelmäßige Sitzungen zu den allgemeinen Themen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Haus können sich für einen Platz im KEK bewerben. Der Austritt ist jederzeit möglich.

Das KEK nimmt eine umfassende Perspektive ein, wie die Vorsitzende Sabine Sieler betont. Der Anspruch sei, „dass das Ethikkomitee unterstützend für alle an der Behandlung Beteiligten fungiert und Angehörigen und Fachleuten das Gefühl geben kann, schwierige Entscheidungen am Lebensende nicht allein tragen zu müssen“.

Siegen: Angehörige schwerstkranker Menschen fühlen Angst, Druck und große Hilflosigkeit

Die Extremsituation macht die Kommunikation komplizierter. Oft gehe es im Kern eigentlich gar nicht darum, dass Angehörige und medizinische Fachleute Meinungsverschiedenheiten oder gar Streit wegen Behandlungen, weiterer Maßnahmen oder eben auch dem Verzicht auf solche hätten – sondern um Unklarheiten, weil die Verständigung schwierig sei. „Ärzte merken manchmal, dass sie in eine Sackgasse laufen“, sagt die KEK-Vorsitzende über typische Probleme in der Kommunikation. Wenn es um das Wohl geliebter Menschen gehe, hätten Angehörige Ängste, Druck, Gefühle von Verzweiflung, Hilflosigkeit oder Überforderung und würden Informationen unter dieser Spannung filtern: „Sie hören dann nicht alles.“ Sei es aus Sicht der Expertinnen und Experten beispielsweise angezeigt, Maßnahmen wie künstliche Ernährung oder Beatmung ab einem gewissen Punkt einzustellen, könne das Gegenargument kommen „Aber er ist doch stabil!“ Nur: Wie lange soll das weiterlaufen, wenn keine realistische Chance auf Besserung in Sicht ist?

„Gut Abschied nehmen können, das ist ganz wichtig.“

Sabine Sieler über Fälle, in denen Angehörige sich mit dem Tod eines geliebten Menschen auseinandersetzen müssen.

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Die Gespräche in den größeren Runden könnten da sehr hilfreich sein, „weil es dann nicht nur ein einzelner Arzt ist, der seine jeweilige Meinung sagt, sondern weil alle an der jeweiligen Patientenbehandlung Beteiligten sich äußern“, erklärt Sabine Sieler. Außerdem „empfinden es viele Menschen als sehr wertschätzend, dass zehn oder zwölf Fachleute lange und ausgiebig über ihren Angehörigen reden und gemeinsam abwägen“. Die Betroffenen sollen sich aufgehoben und aufgefangen fühlen, sollen auch – wenn es darauf hinausläuft – „gut Abschied nehmen können, das ist ganz wichtig“. Wobei, das macht Sabine Sieler ganz deutlich, natürlich nicht die Angehörigen im Mittelpunkt stünden, sondern die Patientinnen und Patienten. Sie sind die Hauptpersonen, auf ihre Bedürfnisse, Belange und Interessen müssen alles Handeln ausgerichtet sein. Und in manchen Fällen sei es eben auch Aufgabe eines Krankenhauses, „Patienten bei einem menschenwürdigen Sterben zu begleiten“. Die Angehörigen müssten dabei natürlich im Blick behalten werden, müssten sich zum Beispiel darauf verlassen können, dass der geliebte Mensch nicht leidet, dass er „keinen Hunger, keinen Durst, keine Schmerzen, Luftnot oder Angst verspürt“.

Klinikum Siegen: Ethikkomitee unterstützt, wenn Antworten auf die schwierigsten Fragen zu finden sind

Die Konsile sollen idealerweise mit einem Konsens enden. Sei ein solcher nicht zu erreichen, werde eine Behandlung in der Regel fortgesetzt und ein Folgetermin nach einigen Tagen oder Wochen vereinbart. Darüber hinaus sei es wichtig, auch Möglichkeiten außerhalb des Krankenhauses aufzuzeigen: etwa die Überleitung in ein Hospiz oder Unterstützungsangebote für die Pflege zu Hause.

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„Es ist nicht einfach“, betont Sabine Sieler über die Arbeit des Ethikkomitees. Sehr viele Aspekte müssten berücksichtigt werden und die Gespräche seien oft so intensiv, „dass man sich danach fühlt, als sei man einen Marathon gelaufen“. Doch sie ist überzeugt: „Das Ethikkomitee ist ein unverzichtbarer Teil des Klinikums, das durch steigende medizinische Möglichkeiten zunehmend an Bedeutung gewinnt.“

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