Siegen-Wittgenstein. Der Teufel steckt im Detail: Die Kreistagsmehrheit macht Abstriche bei ihren Sparbeschlüssen. Als es ums Jugendamt geht, kommt es zum Eklat.

Netzwerk Kinderschutz, Verfahrenslotsen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung, Koordinierungsstelle für Vormundschaften: Vier neue Arbeitsplätze sind das im Jugendamt, die seit Jahresbeginn durch Mitarbeitende anderer Sachgebiete ausgefüllt werden, weil das Jugendamt dazu gesetzlich verpflichtet ist, der Kreistag aber die zusätzlichen Stellen verweigert. „Klar, dass ihr jammert“, sagt Guido Müller (FDP) im Kreistag. Er findet, dass Mitarbeitende des Regionalen Sozialdienstes (RSD) dafür „vorübergehend abgeordnet“ werden könnten. Dagegen stehen rund 70 Überlastungsanzeigen aus den verschiedenen Sachgebieten des Jugendamtes.

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Der Kreistag befasst sich in insgesamt sieben Tagesordnungspunkten mit „Produkten und Leistungen, die einer Budgetkürzung unterliegen“. Durchgesetzt hatten sich im Kreistag im Februar sechs Fraktionen, die sich selbst als die „sechs Richtigen“ bezeichnen. Für die unterlegene Minderheit sind CDU, Grüne, UWG, FDP, SWM und Werteunion dagegen die „Sechserbande“. Das Problem: Der Kreistag hatte nicht festgelegt, welche Aufgaben künftig nicht mehr erfüllt werden sollen.

Der Eklat

Die Diskussion eskaliert beim Jugendamt. Schon der Jugendhilfeausschuss, in dem auch die freien Träger der Jugendhilfe Stimmrecht haben, hatte sich dafür ausgesprochen, die vier Stellen zumindest zunächst befristet einzurichten, damit der Kreistag nächstes Jahr neu beraten kann – von der Alternative, stattdessen die Erziehungsberatungsstelle zu schließen, wollte niemand etwas wissen.

Bernd Schneider (Grüne) wiederholt im Kreistag seine Kritik: Die Vorlage der Verwaltung sei „ganz schwach“, der Vorschlag mit der Erziehungsberatung „unangemessen“. „Das Jugendamt scheint mir nicht so belastet.“ „Das Jugendamt muss mit der Mannschaft, die jetzt da ist, arbeiten“, fordert Guido Müller (FDP). Sonja Koch (CDU) lässt die Auffassung durchblicken, die Befürworter der zusätzlichen Stellen handelten im eigenen Interesse: „Ich gehöre zu den wenigen Personen im Jugendhilfeausschuss, die nicht beruflich von den Beschlüssen profitieren.“

Die Empörung ist groß. „Ich hätte nie geglaubt, dass ich die Atemübungen von der Geburtsvorbereitung mal in Kreistag brauchen würde“, sagt Nicole Schöppner (SPD), Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses. Eine „absolute Frechheit“ nennt Michael Sittler (SPD) die Argumentation der – von Ulrich Schmidt-Kalteich (Grüne) so bezeichneten – „Kürzungsfraktionen“, er sei „tief erschüttert“. „So kann man doch nicht mit Personal umgehen“, sagt Anke Flender (SPD), die nicht die Einzige ist, die die politische Mitverantwortung im Falle eines Jugendamts-Versagens anspricht. „Wenn hier was passiert, sucht die Staatsanwaltschaft zuerst nach der Organverantwortung“, warnt Landrat Andreas Müller. Um die später feststellen zu können, werde der Kreistag namentlich abstimmen.

Landrat Müller verweist auf erste Daten des geforderten Jugendämter-Vergleichs: „Wir sind keineswegs die Teuersten.“ Im Jugendhilfeausschuss war an das Ergebnis einer der zahlreichen Organisationsuntersuchungen erinnert worden: Am Ende hatte sich sogar ein Bedarf an zusätzlich einzurichtenden Stellen herausgestellt. „Es ist erwiesen, dass das Jugendamt nicht übermäßig besetzt ist“, sagt Katrin Fey (Linke). Die Debatte mündet in lautem Geschrei, bevor der Landrat abbricht. Die Runde der Fraktionsvorsitzenden soll zusammengekommen, um den Kreistag vor einem womöglich rechtswidrigen Beschluss zu bewahren. 

„Tu doch nicht so, als ob in Siegen-Wittgenstein die Gesellschaft zugrunde geht.“

Guido Müller, FDP

Die Kürzungen

Angefangen hat die Bewältigung der Sparbeschlüsse mit dem Bürger- und Ehrenamtsservice. „Ein Signal an der falschesten Stelle“, findet Landrat Andreas Müller, zumal nur Sachkosten von 20.000 Euro in dem Etat mit einem Gesamtvolumen von einer halben Milliarde Euro eingespart würden. Die damit verbundenen Personalkosten seinen ohnehin nicht reduzierbar: „Die Kollegin ist da, und sie bleibt auch.“ Guido Müller (FDP) ist wenig beeindruckt: „Tu nicht so, als ob in Siegen-Wittgenstein die Gesellschaft zugrunde geht.“ Julian Maletz (SPD) verweist darauf, dass auch Kommunalpolitik ohne freiwillige Arbeit nicht funktioniert: „Auch wir stützen uns alle aufs Ehrenamt.“ Mit 27 gegen 21 Stimmen beschließt der Kreistag die Einstellung des Ehrenamtsservice zum Jahresende.

Dieselbe Mehrheit bestätigt - nächster Punkt der Tagesordnung – die Abschaffung des digitalen Kulturhandbuchs. Und dann auch, ohne Diskussion, die Streichung von Stipendien und Studienpreisen. „Es wird unter sich geschaut“, stellt der Landrat fest, nachdem er nach Wortmeldungen gefragt hat. Zusätzliche Beratung bei Bauanträgen gibt es künftig auch nicht mehr; die Kreisverwaltung sagt für diesen Fall voraus, dass es nun länger bis zur Baugenehmigung dauern könnte.

Die Rückzieher

Bei der Kürzung der Wohnungsförderung macht die Mehrheit einen Rückzieher. Allerdings nicht, weil Baudezernent Arno Wied nun, nach Jahren der Flaute, von einem „sehr stark steigenden Antragsvolumen“ berichtet, das „nun nicht mehr abgearbeitet werden kann“. Sondern weil, wie Bauamtsleiterin Ramona Blaschke darlegt, Förderungen bereits zugesagt sind und das Ganze ohnehin nicht die Welt ausmacht. Insgesamt, so erfährt der Kreistag nach einer Sitzungsunterbrechung, geht es um etwas mehr als 10.000 Euro. „2025 sehen wir uns bei den Haushaltsberatungen wieder“, kündigt Ulrich Schmidt-Kalteich (Grüne) an.

„Ich bin entsetzt, wie hier mit Menschen umgegangen wird.“

Annette Scholl, SPD

Eine „gewisse Differenzierung“ will Hermann-Josef Droege (CDU) auch beim Umgang mit dem Sparbeschluss zur Wirtschaftsförderung sehen. Der Kreis soll bei der Gründungsförderung durch den „Startpunkt 57“ (Mitgliedsbeitrag: 16.000 Euro) dabei bleiben. Gespart werden tatsächlich Personalkosten, weil die damit verbundene Planstelle unbesetzt ist und die Aufgabe von der mit der „digitalen Transformation“ beauftragten Fachkraft miterledigt werden soll. Annette Scholl (SPD), Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses, macht ihrem Unmut Luft: „Ich bin entsetzt, wie hier mit Menschen umgegangen wird. Es ist erschreckend und beschämend, dass wir auf diese Weise in den nächsten anderthalb Jahren zusammenarbeiten wollen.“

Ohne Diskussion nimmt der Kreistag die Sparbeschlüsse zum Tourismus zurück, für die der Kreis bereits Verpflichtungen eingegangen ist: knapp 83.000 vom 500.000 Euro unter anderem für Trekkingplätze und den Natursteig Sieg. Bei wenigen Gegenstimmen beschlossen wird der von der FDP beantragte Auftrag an den Tourismusverband, sich künftig um auch um ein „Lebensraummanagement“ zu kümmern, und einstimmig der Antrag der SPD, ab 2025 wieder bei Siegtal Pur dabei zu sein, aber billiger als bisher. Dann werden die Radfahrer wohl nicht mehr durch die Tunnel fahren können, ahnt Landrat Andreas Müller: „Das Teuerste ist der Streckenabschnitt auf der HTS.“

Das dicke Ende

Das Teuerste kommt zum Schluss. Ohne Diskussion stimmt der Kreistag einer zusätzlichen Ausgabe von rund 654.000 Euro einstimmig zu, nachdem er im Februar 3,3 Millionen Euro gekürzt hat: Personalkosten, die mit den von Einsparungen betroffenen Aufgaben verbunden sind, aber trotzdem nicht wegfallen. Die Fachkräfte müssen nun, so die Vorlage, „mit dem Einsatz nicht unerheblicher finanzieller und zeitlicher Ressourcen“ für andere Aufgaben qualifiziert werden. „Rechtsverhältnisbeendende personalwirtschaftliche Maßnahmen“ seien keine Option. Auf Deutsch: Die Leute lassen sich nicht einfach auf die Straße setzen.

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