Siegen-Wittgenstein. Ein Systemsprenger-Kind, das niemand haben will. Problemfamilien, die Hunderttausende kosten. Und eine Politik, die sparen will – das klingt hart.
Die Schilderungen sind drastisch. Jugendamtsleiterin Anissa Mahmood berichtet über ein elfjähriges Mädchen, „das wir gerade nicht versorgen können“: 84 Einrichtungen seien bisher angefragt worden, keine sah sich in der Lage, die „Systemsprengerin“ aufzunehmen. Karl-Heinz Jungbluth, bis zum Ruhestand selbst im Regionalen Sozialdienst und heute für die FDP im Jugendhilfeausschuss, erinnert sich an die eigene Praxis: „Problemfamilien ziehen schnell mal um.“ Wenn dann Eltern mit fünf Kindern in den Bezirk des Jugendamtes ziehen, „haben Sie eine halbe Million Euro auf der Ausgabenseite mehr, auf die Sie keinen Einfluss haben.“ Jugend- und Sozialdezernent Thomas Wüst berichtet von rund 70 Beschäftigten Jugendamt, deren Teams Überlastungsanzeigen gestellt haben – je nach Rechenweise jeder und jede zweite Mitarbeitende.
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Der Anlass für die Auseinandersetzung liegt vier Monate zurück: Eine Mehrheit aus sechs Fraktionen im Kreistag hat den Großteil der zusätzlichen Stellen verweigert, die die Verwaltung beantragt hat. Das Ergebnis: Weil insgesamt vier neue Stellen für neue Pflichtaufgaben nicht geschaffen wurden, müssen andere Stellen freigemacht werden, indem eine andere Aufgabe an freie Träger abgegeben wird. Das könnte die Erziehungsberatung treffen. „Alles andere als sinnvoll“, sagt Thomas Wüst, „aber das kommt am ehesten in Frage.“
Der Schlagabtausch
„Hochgradig bedauerlich“ nennt Caritas-Vorstand Matthias Vitt die Vorlage, die nun zur Diskussion steht. „Ich sehe überhaupt keine Option, dass irgendein Betrag eingespart werden kann.“ Bernd Schneider (Grüne) sieht das anders. „Wir wollen nicht kürzen, sondern nur weiteren Stellenaufwuchs verhindern.“ Es müsse möglich sein, vorhandenes Personal für die neuen Aufgaben zu gewinnen. Die Zahl der im Regionalen Sozialdienst (RSD) je Mitarbeiter bearbeiteten Fälle sei „nicht exorbitant“ hoch. „Schockiert“ zeigt sich RSD-Leiter Fabian Kaste. Fälle, die nicht mehr bearbeitet würden, hätten später um so teureren Hilfebedarf zur Folge. Katrin Fey (Linke) fragt, warum die sechs Fraktionen sich nicht vorher über die Konsequenzen ihrer Beschlüsse sachkundig gemacht hätten. „Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen.“ Dass der Personalrat nach dem Kreistagsbeschluss nicht mehr beteiligt worden sei, sei eine „Ungeheuerlichkeit“.
Bernd Schneider (Grüne) verlangt einen Kostenvergleich der südwestfälischen Jugendämter, von denen Siegen-Wittgenstein das teuerste sei: „Der Vergleich wird von Ihnen gefürchtet wie das Weihwasser vom Teufel.“ Vergleichbar gemacht werden könnten Prozesse, also Arbeitsabläufe, erwidert Dezernent Thomas Wüst. Der geforderte Vergleich der Mitarbeiterzahl je 10.000 Einwohner sage wenig aus: Das Jugendamt des Märkischen Kreises zum Beispiel ist nur für acht von 15 Kommunen zuständig, sieben haben eigene Jugendämter. Im Hochsauerlandkreis werden drei von zwölf, im Kreis Soest drei von 14 Gemeinden nicht vom Kreisjugendamt versorgt. Karl-Heinz Jungbluth (FDP) erinnert an wiederkehrende Debatten zum selben Thema und die Konsequenzen aus bereits erstellten Gutachten: Nicht die gewünschten Sparvorschläge, sondern die Feststellung, dass das Jugendamt 13 Kräfte zu wenig habe.
Besonders der RSD leidet unter hoher Fluktuation; 22 Mitarbeitende hätten allein zwischen 2019 und 2022 den Dienst quittiert, berichtet Fabian Kaste. „Wir versuchen alles, um Fachkräfte an uns zu binden“, sagt Jugendamtsleiterin Anissa Mahmood. Gerade Berufseinsteiger überschätzten aber gelegentlich die Anforderungen. „Die herausfordernden Einzelfälle werden mehr, die Komplexität wird noch einmal um ein Vielfaches steigen.“ Und Diskussionen, wie sie die Kreispolitik jetzt führe, „werden natürlich auch von Fachkräften zur Kenntnis genommen.“ Die sich dann eben, aber das spricht Anissa Mahmood nicht aus, gut überlegen, ob sie sich auf solche Arbeitsbedingungen einlassen. Auch eine Rufbereitschaft habe neu eingeführt worden müssen, weil dafür keine freien Träger mehr zur Verfügung stünden, sagt RSD-Leiter Kaste: „Das ist einfach ein sehr belastender Arbeitsbereich.“
Sonja Koch (CDU) vertritt weiter die Position ihrer Fraktion: Die Diskussion werde „am Thema vorbei“ geführt. Es gehe nur um vier Stellen, die nicht zusätzlich geschaffen werden sollen. Ob das darauf hinauslaufe, von anderen Mitarbeitenden Mehrarbeit zu verlangen, fragt Heike zur Nieden (SPD): „Wenn ich das meiner Putzfrau sage, kündigt die.“ Karl-Heinz Jungbluth (FDP) zu Sonja Koch: „Das zeigt, dass Sie von der Materie keine Ahnung haben.“ Auch Markus Böhmer (SWM) rückt von dem im Februar noch mitgetragenen Beschluss ab: „Man kann sich neuen Argumenten nicht verschließen.“
„Unsere Bürger sind an eine Belastungsgrenze gekommen“, sagt Sonja Koch (CDU), „irgendwer muss es ja bezahlen.“ „Es wird noch teurer, wenn Jugendamt und freie Träger ihre Aufgaben nicht machen“, sagt Bernd Zimmermann (Kreisjugendring). Bürger zahlten nicht nur, sie nähmen auch Leistungen in Anspruch, sagt Ausschussvorsitzende Nicole Schöppner (SPD). „Stur mit Scheuklappen“ seien die sechs Fraktionen unterwegs: „Schauen Sie mal bei TikTok, was los ist.“ Udo Hüttmann, jetzt Sachgebietsleiter für Kinder- und Jugendförderung, früher selbst Leiter eines RSD-Standorts, bekommt am Ende anhaltenden Beifall: „Die Mitarbeiter gehen von der Fahne, wenn sie merken, dass sie nur noch Verhandlungsmasse sind. Ich bin stolz auf den Laden hier.“
Das Ergebnis
Die Erziehungsberatungsstelle bleibt beim Kreis, die neuen Stellen für Vormundschaften, Verfahrenslotsen für KInder und Jugendliche mit Behinderung und ihre Familien und die Koordinierungsstelle für das Netzwerk Kinderschutz kommen trotzdem. Dass die Sechs-Fraktionen-Kreistagsmehrheit sich im Jugendhilfeausschuss nicht durchsetzen würde, liegt auf der Hand: Von den 15 stimmberechtigten Mitgliedern werden sechs von den freien Trägern der Jugendhilfe gestellt und nur neun vom Kreistag, von diesen neun haben CDU, Grüne, Werteunion und UWG zusammen sechs Stimmen, FDP und SWM gar keine.
Mit sieben gegen vier Stimmen wird empfohlen, die Stellen zunächst bis Ende Juni 2025 befristet zu besetzen – wobei niemand annehmen muss, tatsächlich nur ein paar Monate beim Kreis arbeiten zu können. Denn die Stellen bleiben, weil sie gesetzliche Pflichtaufgaben ausfüllen. Ein Jahr Zeit würde damit gewonnen, um politisch zu entscheiden, welche Aufgaben das Jugendamt künftig nicht mehr erfüllen soll, wirbt Dezernent Thomas Wüst – das Übertragen zum Beispiel von Adoptionsvermittlung, Jugendgerichtshilfe oder Pflegekinderdienst an freie Träger allein spare kein Geld: „Die Kosten sind grundsätzlich gleich.“ Ob der Kreistag der Empfehlung des Jugendhilfeausschusses folgt, ist offen. Zumal die Folgen der Kreistagsbeschlüsse – abgelehnte zusätzliche Stellen, Budgetkürzungen – auch andere Verwaltungsbereiche wie Bauen, Kultur und Tourismus treffen.
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