Siegen. Im Café Patchwork ist eine Straßenzeitung entstanden. Ein Euro von jedem Exemplar behalten die Verkäufer, die damit ihren Lebensunterhalt aufbessern.

„Nicht jeder hat das goldene Los gezogen, aber jeder sollte mitgenommen werden.“ Mit dieser Forderung hat die Redaktion des „Straßenkrönchens“ das erste Wort. Sie führt mit der Titelseite ihres nagelneuen Siegener Magazins mitten hinein in eine Lebenswirklichkeit, die von außen betrachtet oft fremd ist, manchmal verstörend und anfragend und geprägt von Arbeitslosigkeit, Mittellosigkeit und Wohnungslosigkeit. Mehr als noch mehr Worte unterstreicht eine Fotografie die Situation. Menschen warten auf den Bus. Ältere, jüngere, eine Frau mit Kind. Ein Mann fällt aus dem Rahmen. Sitzt zwar an, aber doch neben der Haltestelle, die Hände vor dem Gesicht. Wen oder was er erwartet, bleibt offen. Aber: Er trägt, und das ist auf den zweiten Blick erst zu sehen, eine Krone. Das zeichnet ihn aus, ist ein Fingerzeig auf seinen vordergründig unterschätzten Wert.

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Text und Bild kommen zusammen auf Seite eins dieser Straßenzeitung, in der Menschen in besonderen Lebenssituationen zu Wort kommen und damit Einsichten erlauben in ihre Welt, die auch bestimmt ist von Interessen, Träumen und dem Sehnen nach einem guten Miteinander. Entstanden ist das „Straßenkrönchen“ auf der Basis eines sozialpädagogischen Projekts im Café Patchwork, dem Tagesaufenthalt der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Soziale Dienste gGmbH. Hier, an der Weidenauer Herrenwiese 5, finden Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, eine niedrigschwellige Anlaufstelle. Birgit, eine der Besucherinnen, beschreibt im „Straßenkrönchen“ das Café aus ihrer Sicht: „Ein Zuhause. Eine Großfamilie. Gesellschaft. Freunde treffen, versorgt sein. Freude haben, Zeitvertrieb. Ort zum Aufwärmen, neue Leute kennenlernen. Was unternehmen, Wäsche waschen.“

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Mit dem Zeitungsprojekt gesellte sich eine neue, partizipative Möglichkeit in der Tagesstruktur hinzu. Aus der anfänglichen Idee, mit den Menschen „etwas Sinnvolles“ zu unternehmen, sei das Konzept, eine Straßenzeitung zu erstellen, geworden, so Einrichtungsleiter Carsten Dax im Pressegespräch. Er fand Unterstützer und auch ein qualifiziertes Team, das mit Knowhow, Zuwendung, Geduld und Geschick eine Schreibwerkstätte im Café Patchwork installierte. Auf die Einladung, eine Zeitung gestalten zu wollen, hätten sich fünf bis zwölf Teilnehmende zusammengetan, die alle 14 Tage freitags zwischen 15.15 und 18 Uhr gemeinsam arbeiteten, so Rieke Pleuß, die das Projekt als Sozialarbeiterin im Anerkennungsjahr betreut.

Antisemitismus ist auch für Wohnungslosen-Projekt in Siegen Thema

Adrian Stötzel, hauptamtlich im Stadtteilbüro der AWo in der Fritz-Erler-Siedlung in Kreuztal angestellt, betätigt sich als Ehrenamtler in der Redaktion. Er nennt ein Beispiel dafür, wie sich der Prozess von der Themenfindung zur journalistischen Umsetzung entwickelte. So habe es den Impuls gegeben, etwas zur Krisenstimmung in der Welt zu schreiben, auch mit Blick auf den Nahostkonflikt, berichtet er. Wie dem also nachgehen? Vielleicht mit einem Besuch des Aktiven Museums Südwestfalen! Und so schaute er sich gemeinsam mit Rieke Pleuß und „Straßenkrönchen“-Macher Pauli eben dort die Sonderausstellung zur Zwangsarbeit im Siegerland an, mit anschließendem Interview mit Kurator Peer Ball und Museumsmitarbeiterin Christina Panzer. Auf mehr als einer Doppelseite ist nun zu lesen, welche Antworten es gab auf Fragen wie diese: „Wie kann man denn antisemitischen Haltungen gegenübertreten oder gegenwirken?“

Das „Straßenkrönchen“ bietet einen reichen Fundus an Informationen über Wohnungslosigkeit und hat eine enorme Service-Qualität – mit einem ausführlichen Kontaktverzeichnis mit vielen hilfreichen Anlaufstellen, mit einem Porträt des Medizinischen Dienstes der Malteser für Menschen ohne Krankenversicherung und (natürlich!) auch mit einer Vorstellung des Cafés Patchwork und des das Zeitungsprojekt so engagiert unterstützenden Fördervereins „gegen-armut-siegen?!“.

Breite Öffentlichkeit für Wohnungslosigkeit in Siegen

6000 Euro habe man dem Team zur Verfügung gestellt, so Fördervereinsvorsitzender Pfarrer Günther Albrecht. Es sei wichtig, dem Thema Wohnungslosigkeit eine breite Öffentlichkeit zu geben. Gern sei man auch bei einer Projektverlängerung an der Seite des „Straßenkrönchens“. Vorstandskollegin Kai Cramer, die sich selbst mit einem bewegenden Lebensbild ihres lange Zeit wohnungslosen und 2010 verstorbenen Bruders Knut in die Schreibwerkstätte eingebracht hat, unterstrich, wie sehr dieses Projekt über das reine Zeitungmachen hinausgeht. Damit würdigte sie das Ansinnen, eine solch ermutigende, sinnstiftende, zielführende kommunikativ-soziale Möglichkeit des Miteinanders anzubieten. Zu den weiteren Unterstützern zählt die Bürgerstiftung Siegen; etliche Unternehmen haben Anzeigen platziert.

Es seien drei intensive Monate gewesen, reflektiert Sebastian Taugerbeck die zurückliegende gemeinsame Zeit. Der gelernte Siebdrucker, Doktorand an der Universität Siegen, war bei der redaktionellen Moderation vor allem für den grafischen Part zuständig – und hat nicht zuletzt „Peters Gartenzwerge“ auf etlichen der 48 Seiten der Erstausgabe versteckt. Sie sind Teil eines Ratespiels und zeigen den Unterhaltungswert des Magazins. Denn bei allem Ernst kann das Leben durchaus schön sein. So hat „M.“ („stets unterwegs in den schönsten Städten Deutschlands“) einen Ausflugstipp mit dem Deutschlandticket für die Leserinnen und Leser parat: „Linz ist immer eine Reise wert.“ Die Stadt am Rhein „lohnt sich“ schreibt „M.“ – und illustriert das auch fotografisch.

Straßenkrönchen Siegen: Mit Rezept für die Pizzaschnecken

Weil wer arbeitet, auch essen soll, gehörte in die Schreibwerkstätte immer eine feine Pizza-Auswahl. Das führte zur Idee, die Rubrik „Einfach. Lecker. Kochen“ ins Magazin aufzunehmen. Die „Pizzaschnecken mit Basilikum-Pesto und Tomatensoße“ gibt es im „Straßenkrönchen“ als Rezept mit Bilderstrecke.

Zu haben ist die Siegener Straßenzeitung an zwei fixen Ausgabestellen: im Café Noir in der Oberstadt und in der Weidenauer Buchhandlung „Bücherkiste“. Die ans Café Patchwork angedockten Menschen sind auch eingeladen, das „Straßenkrönchen“ im Straßenverkauf anzubieten. Mit Basecap, Schultertasche und Sammeldose und mit der Option, einen Euro von den zwei Euro, die das Magazin kostet, als Verkäuferanteil zum eigenen Lebensunterhalt dazu zu verdienen.

Siegens Bürgermeister Steffen Mues zeigt sich „tief beeindruckt vom Engagement und Mut der Besucher des Cafés Patchwork, ihre Geschichten zu teilen“. Er hat das Vorwort fürs „Straßenkrönchen“ geschrieben. Das sei, so Einrichtungsleiter Dax, für das Zeitungsteam eine „große Ermutigung“.

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