Siegen. Der Prozess vor dem Amtsgericht um die antisemitische Störung des Stolperstein-Spaziergangs auf der Hammerhütte in Siegen ist beendet.
Im „Stolperstein-Prozess“ hat das Amtsgericht Siegen einen Rechtsextremen verurteilt. Angeklagt war der Mann nach dem Vorfall Ende September 2020, als er einen Stolpersteinspaziergang gestört und antisemitische Äußerungen getätigt hatte. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass mit der in diesem Kontext gefallenenen Beschimpfung „Scheißjuden“, die mehrere Zeugen im Prozess übereinstimmend bestätigten, der Straftatbestand der Beleidigung erfüllt ist. Angeklagt war der Mann wegen Volksverhetzung, das Gericht konnte hierfür aber keine ausreichenden Beweise feststellen.
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Ein weiterer Zeuge, Teilnehmer der Stolperstein-Führung, schildert noch einmal den bereits bekannten Tathergang. Die von der Verteidigerin geforderten Lichtbilder der Umgebung liegen vor, Staatsanwalt und Gericht stufen sie als sinnlos ein. Ebenso eine Tonaufzeichnung, auf der ein Großteil des Geschehens zu hören sein soll, aber eben nicht alles.
Staatsanwalt: Auf Hammerhütte mit Holocaust beschäftigen nicht ohne Polizeischutz
Für den Staatsanwalt hat die Beweisaufnahme den Sachverhalt bestätigt: Der Angeklagte habe unter dem Aspekt „Friedensstörung“ zumindest so massiv auf die Teilnehmer der Führung eingewirkt, dass diese nicht fortgesetzt werden konnte und so einen Polizeieinsatz provoziert. Anhand der Zeugenaussagen hätten sich zwar einige Sachverhalte nicht bestätigen lassen, in der Folge aber sei es zu starken Empörungen und auch medialem Echo gekommen, weitere Führungen hätten nur noch unter Polizeischutz stattfinden können, was der Angeklagte auch gewusst oder zumindest einkalkuliert habe. Sich auf der Hammerhütte mit dem Holocaust auseinanderzusetzen, sei nicht mehr sorglos möglich gewesen. Er habe jüdische Menschen verächtlich gemacht, sie beschimpft und in ihrer Menschenwürde angegriffen. Er beantragt eine Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung und eine Geldauflage.
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Die Verteidigerin behauptet, dass an der konkreten Stelle, an der Äußerungen getätigt wurden, keine Juden gelebt hätten, ihr Mandant habe die Erinnerungskultur kritisiert und die Provokationen in diese Kritik eingebaut – auch die Beleidigungen seien in diesem Kontext zu werten. Für den früheren Wohnort der jüdischen Familie Meyer gebe es unterschiedliche Hausnummern. Das wird der Richter später als „Spitzfindigkeiten“ zurückweisen.
Verteidigerin: Schmähende Aussagen „treffen nicht Kern der Persönlichkeit“ der Juden
Hinweis der Redaktion: Diese Aussagen aus dem Plädoyer der Verteidigerin sind sachlich falsch. Das Aktive Museum Südwestfalen weist darauf hin, dass es früher zwei jüdische Familien mit dem Namen Meyer auf der Hammerhütte gab, die in unterschiedlichen Häusern an der Wiesenstraße wohnten, daher die unterschiedlichen Hausnummern in den Quellen. Zudem wurden seither Straßennummern verändert. An der Stelle des heutigen Spielplatzes, Ort des Geschehens, stand früher ein Haus, gegen dessen Eigentümer nach dem Krieg Restitutionsforderungen von jüdischen Menschen gestellt wurden.
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Die Aussagen ihres Mandanten seien nicht öffentlich gewesen, sondern gegen die Personen gerichtet, die die Erinnerungskultur „zelebriert hätten“, lässt die Verteidigerin weiter wissen. Es habe sich auch nicht um Beschimpfungen oder böswilliges Verächtlichmachen gehandelt, weil kein Angriff auf die Menschenwürde vorliege. Durch die Verknüpfung von „Scheißjuden“ mit entsprechenden Titulierungen für Christen und Muslime habe der Angeklagte diese „auf eine Ebene gehoben“. Es seien schmähende Aussagen, aber keine, die Menschen im Kern ihrer Persönlichkeit treffe. Sie verweist auf einen Prozess gegen den Holocaustleugner Horst Mahler, dass solche Aussagen gegenüber Personen geäußert werden müssten, die man auch aufstacheln könne, was hier gerade nicht der Fall gewesen sei. Es habe sich um eine Diskussion gehandelt, „die sich entwickelt hat“. Sie beantragt Freispruch.
Richter: Mit antisemitischer Beschimpfung Maß der straffreien Meinung überschritten
40 Tagessätze zu 25 Euro, insgesamt 1000 Euro, muss der nunmehr Verurteilte an die Staatskasse überweisen, dazu die Kosten des Verfahrens tragen. Den Antrag seiner Anwältin, als Pflichtverteidigerin beigeordnet zu werden, wies der Richter ab: Es gebe keine neuen Umstände, die das rechtfertigen müssen. Die Kosten für eine Pflichtverteidigung werden in der Regel vom Staat bezahlt.
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„Der Mensch ist als Zeuge ein Fehlkonstrukt“, sagte Uwe Stark in der Urteilsbegründung – die Aspekte des Vorfalls, die eine Verurteilung wegen Volksverhetzung („ein schwieriges Konstrukt“) ermöglicht hätten, waren anhand der Aussagen nicht gerichtsfest zu bekommen, so der Vorsitzende. Es stehe für ihn fest: Der Angeklagte wollte den Stolperstein-Spaziergang stören. Der Nachweis indes, dass er auch den öffentlichen Frieden stören wollte, könne nicht erbracht werden. Das Grundgesetz betone die Bedeutung der Meinungsfreiheit, Adressaten seien hier eine kleine Gruppe gewesen, außerhalb derer die Äußerungen des Angeklagten kaum wahrnehmbar gewesen seien, so der Richter weiter.
Mit der antisemitischen Beschimpfung allerdings habe der Angeklagte das Maß der straffreien Meinungsfreiheit überschritten, er habe jüdische Menschen gerade im Kontext dieser Führung verächtlich machen wollen. „Er wollte provozieren“, so Stark, habe dabei aber wohl die Grenzen seiner eigenen Souveränität verletzt – Zeugen hatten bestätigt, dass der Angeklagte wohlüberlegt und berechnend vorgegangen war, „er weiß, wie weit er gehen kann, um straffrei zu bleiben“.
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Peer Ball, der Referent des Stolpersteinspaziergangs, kommentiert das Urteil wie folgt: „Das Stören von Erinnerungskultur ist in Siegen demnach also kein Straftatbestand, Stolpersteinführungen werden daher wohl zumindest in der Hammerhütte weiter Polizeischutz benötigen.“