Siegen. Was genau geschah auf der Hammerhütte in Siegen, als Rechtsextreme den Stolperstein-Spaziergang störten? Das Gericht muss den Vorfall klären.

Mehr als 14 Monate ist es her, dass ein Vorfall auf der Hammerhütte in Siegen für Empörung sorgte: Ein Rechtsradikaler störte eine Führung entlang der Stolpersteine, die an die Juden erinnern, die dort früher lebten und die von den Nazis deportiert und ermordet wurden. Nun muss sich der Mann vor Gericht verantworten (wir berichteten).

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Im Prozess wird deutlich, wie unterschiedlich die Zeugen den Vorfall wahrgenommen haben – und auch die lange Zeit hat naturgemäß nicht dabei geholfen, die Erinnerung frisch zu halten. Bevor der Prozess fortgesetzt wird, dokumentieren wir die Zeugenaussagen des ersten Verhandlungstages – auf dieser Grundlage muss das Gericht die Wahrheit „herausfiltern“ und zu seinem Urteil kommen.

1. Zeugin, Teilnehmerin des Stolpersteinspaziergangs Hammerhütte Siegen

Schon auf dem Weg, im Bereich der früheren Gaststätte Scholl, seien ihr Männer und Frauen aufgefallen, die mit ihren Handys in die Richtung der Gruppe filmten, berichtet die Frau. Am Ort des Geschehens habe der Angeklagte, der seinen Hund dabei hatte, mit einem Gruppenmitglied, ebenfalls Hundebesitzer, gesprochen und dann den Leiter der Führung gesehen: Der erzähle Lügen, um Geld zu verdienen, habe er gesagt. Die Gruppe versuchte demnach, ihn zu ignorieren, als nach einem Anruf des Angeklagten weitere Unterstützer aus Richtung des „Parteibüros“ hinzukamen, sich nah dazu stellten, filmten oder fotografierten. Sie hätten sich bedroht gefühlt, die Männer gebeten, in Ruhe weiter die Führung durchführen zu können, der Angeklagte habe weiter dazwischengerufen. „Ich sagte zu ihm: ‘Ich möchte nicht hören, was sie zu sagen haben’.“ Dann habe jemand die Polizei gerufen.

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Das sei kein Versuch einer Diskussion gewesen, der Angeklagte sei „über das normale Maß hinaus“ immer lauter geworden, habe versucht, den Leiter „niederzubrüllen“, sich aggressiv gezeigt. Auch die Kinder auf dem Spielplatz, ein Stück entfernt, hätten irritiert geschaut. Hier hätten nie Juden gelebt und seien auch nicht umgebracht worden, habe der Angeklagte gerufen, Juden hätten ohnehin kein Recht, irgendwo zu leben. Zudem habe er Beschimpfungen wie „Scheißjuden“, „Drecksjuden“ zusammenhangslos gerufen. Ihr Eindruck: Er habe die Teilnehmer niedermachen wollen.

2. Zeuge, Teilnehmer des Stolpersteinspaziergangs Hammerhütte Siegen

Der Ehemann der ersten Zeugin zeigt sich immer noch überaus empört. Der Angeklagte sei von der anderen Straßenseite mit einem Hund gekommen, habe gestört und den Leiter beleidigt. Er bestätigt die judenfeindlichen Ausrufe und dass Juden hier nicht umgebracht worden seien sowie kein Recht hätten, irgendwo zu wohnen. Der Versuch einer Diskussion sei nicht möglich gewesen, der Beschuldigte habe in „Endlosschleifen“ seine Monologe gehalten, um bewusst zu provozieren, so der Mann, dessen Aussage allerdings auch in einigen Punkten von der seiner Frau abweicht, ebenso vom noch an diesem Tag gemeinsam verfassten Gedächtnisprotokoll.

3. Zeuge, Teilnehmer des Stolpersteinspaziergangs Hammerhütte Siegen

Um 16.30 Uhr sei der Angeklagte in Höhe der Stolpersteine am Spielplatz in Richtung Schlachthausstraße vorbeigelaufen, berichtet der junge Mann, habe die Gruppe aus der Entfernung angesprochen, sei dann nähergekommen. Was der Leiter erzähle, sei erfunden, Juden hätten hier nie gelebt, das sei „linke Propaganda“ und ein Geschäftsmodell, aus der Gruppe sei versucht worden, dagegen zu argumentieren. Auch er bestätigt die antisemitischen Beschimpfungen. Den Vortrag zu beenden sei nicht möglich gewesen, der Angeklagte sei dem Leiter immer wieder ins Wort gefallen, nicht an einer Diskussion interessiert gewesen, habe seinen „Standpunkt“ in forderndem, durchaus aggressiven Tonfall kundtun wollen, sei teils dem Leiter des Spaziergangs sehr nah gekommen.

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Nach einem Telefonat des Angeklagten seien weitere Männer dazugekommen, die ihn in der Folge mit Wortbeiträgen unterstützt hätten. Es sei klar deren Absicht gewesen, zu stören, Streit anzufangen. Dass die Gruppe darum bat, sie mögen verschwinden, habe keine Reaktion hervorgerufen. Auf die Ankündigung, dass man die Polizei rufen werde, habe er gesagt, dass der Stolperstein-Spaziergang ohnehin nicht angemeldet sei, dass die Gruppe sich nicht an die Coronaschutzverordnung halte.

4. Zeugin, Teilnehmerin des Stolpersteinspaziergangs Hammerhütte Siegen

„Wir wussten, dass der ‘dritte Weg’ da sein Büro hat“, sagt die Frau, im Grunde habe man damit gerechnet, dass die Führung gestört werden könnte. Als der Dozent seinen Vortrag begann, habe der Angeklagte, dem die Gruppe zuvor mit seinem Hund begegnet war, von hinten gerufen, dass „alles gelogen“ sei, dass auf der Hammerhütte niemals Juden gelebt hätten. Der Angeklagte habe den Dozenten lächerlich gemacht, Quellen und Belege verlangt. „Man läuft ja immer mit den Akten in einer Plastiktüte herum.“ Ihrem Eindruck nach habe er es darauf angelegt, den Leiter der Gruppe emotional zu verunsichern, auch andere Teilnehmer seien fassungslos gewesen. „Ich habe mich gefühlt wie in einem schlechten Film.“ Der Tonfall sei nicht bösartig oder aggressiv gewesen, sie würde es als „normal“ bezeichnen. Sie sei auf ihn zugegangen, habe ihm angeboten, an der Führung teilzunehmen. Daraufhin fiel erneut der Begriff „Scheißjuden“, „Du hast es ja schon wieder gesagt“, habe sie den Angeklagten ermahnt. „Scheißchristen“ und „Scheißmoslems“ dürfe er ja auch sagen, habe der zurückgegeben.

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Auch sie bestätigt, dass er den Dozenten bezichtigt habe, sich Geschichten nur auszudenken und damit Geld zu verdienen, sie habe weiter versucht, eine sachliche Diskussion zu beginnen. Er habe laut gesprochen, aber nicht geschrieen, „er wollte stören, ganz klar“, sein „Programm abspielen“, aber weniger auf primitive Weise. „Das hat er auch geschafft.“ Durchaus als „gekonnter Balanceakt“ am Rande der Legalität. Sie sei danach ziemlich fertig gewesen. Dann seien „drei Schergen angehechtet“ gekommen, „als Verstärkung der Präsenz“, aber die hätten „nur leere Augen“. Jemand habe ihr geraten, die Diktierfunktion des Handys zu aktivieren, was sie auch getan habe, da sei allerdings nur wenig verständlich – bis auf „Scheißjuden“. „Es wäre klüger gewesen, er hätte das gelassen“, sagt sie. Was passiert sei, habe der Angeklagte klar inszeniert, sich dazu auch gestisch-mimisch bei seinen Leuten rückversichert.

5. Zeuge, Leiter des Stolpersteinspaziergangs Hammerhütte Siegen

Nachdem die Führung ganz normal gestartet war, kam an besagten Stolpersteinen „ein junger, sportlicher Mann mit Hund in grüner Jacke“ dazu und „die Szene drehte sich“, erinnert sich der Mann. „Er begann zu hinterfragen, was ich da mache“, sagt er, habe dazwischengerufen, die Rechtmäßigkeit der Veranstaltung bezweifelt, auf Corona und Abstände verwiesen. Er sei Anwohner, könne machen was er wolle, was er, der Dozent, tue, sei illegal. „Er hat sein Ziel erreicht: Ich habe die Fassung verloren“, schildert der Zeuge, „ich war darauf nicht vorbereitet“. Auch in der Gruppe habe Aufregung geherrscht, zumal sich bald weitere Männer in einer Linie hinter dem Angeklagten aufgebaut hätten. „Andauernd quakte einer dazwischen“, berichtet der Zeuge. Auch er sagt, dass der Störer Quellen verlangt habe, er als Dozent sei ein Geschäftsmann, der mit erfundenen Geschichten Geld mache. In diesem Moment habe er sich zurückgezogen. „Sie waren doch mal ein Mensch“, sagt er zum Angeklagten, „wie wird man so?“ Er setzte sich auf eine Bank, was der Angeklagte mit Hohn Spott quittierte, weil er gezittert habe. „Da wurde mir klar, hier gibt es nichts zu gewinnen.“

Was ist Volksverhetzung genau?

§ 130 Strafgesetzbuch: Es gibt mehrere Aspekte des Straftatbestands Volksverhetzung. Insbesondere die Vereinbarkeit mit bzw. Abgrenzung zur Meinungsfreiheit ist juristisch durchaus komplex.Absatz 1 zielt auf eine Handlung ab, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, außerdem das Aufstacheln zum Hass und das Auffordern zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen. Er bezieht sich auf das Beschimpfen, böswilliges Verächtlich-Machen oder Verleumden einer Gruppe, was deren Menschenwürde angreift.Absatz 2 meint ein Verbreitungsdelikt (Anti-Diskriminierungstatbestand) – dafür reicht das unkommentierte Weiterverbreiten verbotener Inhalte.Absatz 3: Leugnen, Billigen oder Verharmlosen einer Tat unter der NS-Herrschaft.Absatz 4: Billigen, Verherrlichen oder Rechtfertigen der NS-Gewalt- und Willkürherrschaft.Absatz 5: Verbreiten von Inhalt im Sinne der Absätze 4 und 5.

Auch er bestätigt den vom Angeklagten gesagten Begriff „Scheißjuden“. Der Ton sei „fröhlich-aufmüpfig“ gewesen, nicht schreiend. Eine Person aus der Gruppe habe zu deeskalieren versucht, zu vermitteln; sinngemäß „sag doch sowas nicht“, worauf empört zurückgekommen sei: „Klar sage ich sowas.“ Ein älterer Herr aus der Gruppe habe kopfschüttelnd gesagt: „So etwas macht man einfach nicht.“ Die Unterstützer des Angeklagten hätten nicht viel gesagt, dafür fleißig gefilmt, einer sich dagegen verwahrt, als „Neonazi“ bezeichnet zu werden und mit Anzeige gedroht. Die Männer hätten eher dazu gedient, ihr Revier zu markieren, wie eine Art Gang, hätten sich wie aus dem nichts wie ein „Querriegel“ aufgestellt. In seiner Erregung sei er dem Angeklagten auch einmal ziemlich nah gekommen, berichtet der Dozent. Da merke man das gute Training des Angeklagten, der ihn professionell auf Abstand gehalten habe. „Wenn er nicht will, gerät er auch in keine Auseinandersetzung, das hat man gemerkt.“

Ein Polizist habe später zu ihm sinngemäß gesagt: „Sie müssen sich nicht wundern, wenn sie denen zu nahe kommen“ – „als wäre ich der Provokateur gewesen“, sagt der Mann. VHS und Aktives Museum Südwestfalen seien schon deutlich länger auf der Hammerhütte aktiv als der „dritte Weg“. Zu dieser Zeit seien die Stolpersteinspaziergänge nicht aktiv beworben worden aus Sorge, dass so etwas passieren würde, durch den Vorfall habe sich das aber komplett geändert. Allerdings wurden die Führungen danach in Polizeibegleitung durchgeführt. „Die Polizei hält das auch für angezeigt.“ Am Ende habe man aber sehr profitiert: Im Quartier werde inzwischen zusammen gefeiert, die Nachbarschaft habe sich erheblich verbessert.

6. Zeuge, Teilnehmer des Stolpersteinspaziergangs Hammerhütte Siegen

Er sei derjenige aus der Gruppe, der ebenfalls seinen Hund dabei hatte, sagt der Mann. Die Tiere hätten sich füreinander interessiert, gemeinsam sei man Richtung der Gruppe gegangen, dabei habe der Angeklagte mitbekommen, worum es ging. Er habe den Dozenten unterbrochen, ihn als Lügner bezeichnet, zu den Teilnehmern gesagt, dass der Mann nur Geld verdienen wolle. „Scheißjuden“ habe er gesagt. Die Atmosphäre sei „spannungsgeladen“ gewesen, auch wenn die Teilnehmer der Führung sich sehr zurückhaltend benommen hätten. Die Polizei sei gerufen worden, weil nicht einschätzbar gewesen sei, wie sich die Situation weiter entwickeln würde, „die Spannung hätte eskalieren können“, sagt der Mann, der die Lage als beängstigend empfunden habe.

7. Zeuge, Teilnehmer des Stolpersteinspaziergangs Hammerhütte Siegen

Der Angeklagte sei mit seinem Hund an der Gruppe vorbeigegangen und habe angefangen zu brüllen, den Vortrat massiv zu stören, „er wirkte laut, bedrohlich“, sagt der Zeuge. Juden könne man mit dem genannten Begriff beleidigen, weil man das ja auch mit Christen und Moslems dürfe. Wenig später seien weitere Männer, die offenkundig zum Angeklagten gehörten, dazugekommen, die Polizei wurde gerufen, weil die Situation zunehmend bedrohlich wurde, der Vortrag nicht mehr stattfinden konnte. Der Angeklagte sei laut geworden, sehr nahe gekommen, was gerade die älteren Menschen unter den Teilnehmern geängstigt habe. Manche Teilnehmer hätten versucht, mit dem Störer zu diskutieren, „für mich war klar, dass es nicht klappt“, sagt der Mann. Die Polizei habe die Gruppen getrennt, damit es nicht zu einer weiteren Eskalation kam.

8. Zeugin, Teilnehmerin des Stolpersteinspaziergangs Hammerhütte Siegen

Die Frau bestätigt die Aussagen des Angeklagten, der Dozent sei „Geschäftsmann“, auch die judenfeindlichen Schimpfworte, die Behauptung, dass auf der Hammerhütte nie Juden gelebt hätten. „Wir waren alle empört“, sagt sie, ein älterer Teilnehmer habe gebeten, der Angeklagte möge aufhören. Durch Äußerungen und Auftreten des Angeklagten habe sie sich bedroht gefühlt.

9. Zeuge, „Unterstützer“ des Angeklagten

Es habe im „Parteibüro“ eine Mitgliederversammlung gegeben, sagt der Zeuge, zwei Kollegen seien vom Angeklagten angerufen worden, der gerade seinen Hund ausführte. Es habe ein „Ereignis mit mehreren Leuten“ gegeben. Sie seien hingeeilt, vor Ort sei aber alles schon passiert. Er sei hingegangen, weil der Angeklagte um Hilfe gebeten habe, sagt der Mann. Sinngemäß habe sein Kollege gesagt: „Dahinten ist was los, wir müssen mal gucken“, mehr hätten die anderen auch nicht gewusst.

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Er habe nur gesehen, dass der Angeklagte mit mehreren Leuten eine verbale Auseinandersetzung hatte, sie hätten sich dahintergestellt, sich das ganze angesehen und aufgepasst, dass es keine Handgreiflichkeiten gebe. Er wisse nicht mehr, was gesagt wurde, mehrere Leute hätten den Angeklagten mit Worten angegangen, seien ihm zum Teil auch nahegekommen, aber letztlich „war’s so’n kleiner Streit“. Die Teilnehmer seien sehr aufgebracht gewesen, aber sie drei hätten sich „ziemlich zurückgehalten“.

10. Zeuge, „Unterstützer“ des Angeklagten

Während der Mitgliederversammlung habe man sich irgendwann gewundert, wo der Angeklagte mit seinem Hund bleibt, sagt der Mann. Draußen hörten sie demnach den Hund bellen und stellten fest, dass der Angeklagte versucht hatte, sie anzurufen. Sie seien hingeeilt, vor Ort habe es eine verbale Diskussion gegeben, mehrere Teilnehmer hätten Handys in der Hand gehabt. Inhaltlich habe er nichts mitbekommen. Die Atmosphäre sei angespannt gewesen, aber nicht aggressiv. Der Angeklagte sei ruhig gewesen, habe nicht gebrüllt, nicht gestikuliert. Auch Drohgebärden habe es nicht gegeben.

11. Zeuge, „Unterstützer“ des Angeklagten

Er habe einen verpassten Anruf des Angeklagten gesehen und zurückgerufen: „Kommt mal bitte“, habe der Angeklagte dann gesagt, er sei in einer Diskussion. Als sie dazukamen, ging es um die Stolpersteintour und dass laut des Angeklagten der Leiter der Führung damit Geld verdienen würde, dass wegen Corona keine Abstände eingehalten, keine Masken getragen würden. Man habe dem Angeklagten vor Ort Beistand geleistet, „wir waren halt da, dass die anderen sehen, dass er nicht alleine ist“, so der Zeuge. Man habe einfach dagestanden zu zugehört. Der Ton sei schon etwas lauter gewesen, vom Dozenten auch aggressiv, als er näher an den Angeklagten herantrag, aber „eigentlich nichts besonderes“.