Siegen. Ein Stolperstein erinnert an das Schicksal von Otto Päulgen. Er überlebte die „Heil- und Pflegeanstalt“ nicht.
2018 hat Traute Fries, damals im Vorstand des Aktiven Museums Südwestfalen, auf einer Tagung zu den Krankenmorden der Nazis an Schicksale von Siegenern erinnert, die Opfer der Euthanasie wurden: Sie wurden umgebracht, weil sie als „erbkrank“ galten. „Mit Sicherheit“, sagte Traute Fries im Gespräch mit dieser Zeitung damals, gab es weitere Opfer, deren Namen noch gar nicht bekannt waren.
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Eine Postkarte
Auf einen von ihnen wurde Rüdiger Fries, ihr Bruder, aufmerksam gemacht, als er an einem Sonntagnachmittag Gäste im Aktiven Museum empfing. Willi Päulgen, der mit seiner Frau die Ausstellung besuchte, regte an, dass in der Abteilung, in der es um die Euthanasie-Verbrechen geht, auch sein Onkel Otto erwähnt werde. Und sandte die Feldpostkarte zu, die sein Vater Artur Päulgen aus der Heil- und Pflegeanstalt Bonn bekommen hatte.
„Es begann für mich eine Zeit intensiver Nachforschungen zum Lebensschicksal Otto Päulgens“, berichtet Rüdiger Fries. Das Ergebnis ist eine fast 120 Seiten starke Schrift, ein „Erinnerungsmosaik“, wie Fries es nennt, in der das Leben Otto Päulgens mit lokaler Geschichte und Zeitgeschichte verbunden wird. Otto Päulgens Leben dürfe nicht vergessen werden: „Die Diffamierung, Diskriminierung, Ausgrenzung und die Vernichtung unerwünschter Personen, die nicht in das ideologische Weltbild der Nationalsozialisten passten, zielte letztlich auf eine ‘Auslöschung’ hin, so als hätten diese Menschen nie gelebt.“
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Ein Leben
Otto Päulgen wurde am 18. Mai 1910 in Niederschelderhütte geboren, als sechstes Kind von Emma und Christian Päulgen.
Kindheit und Jugend: Niederschelderhütte war ein Industrieort. Größtes Stahlwerk war die Charlottenhütte, 1898 wurde dort Richtfest gefeiert. Bis zu 900 Menschen arbeiteten dort, der Ort wuchs, auch an der Augustastraße wurden neue Wohnhäuser errichtet. Christian Päulgen war aus Wied bei Hachenburg zugezogen, wurde Hüttenarbeiter in der Charlottenhütte. In Niederschelderhütte lernte er Emma Flender kennen, die er 1898 heiratete. 1907 zogen sie in das eigene Haus an der Augustastraße 21 ein, das bis 2019 in Familienbesitz blieb: das Ehepaar mit den Söhnen Robert, Heinrich, Wilhelm, Friedrich und Alfred. Auch Willi Päulgen, Sohn von Christians Bruder Artur, kam hier zur Welt.
„Ottos Kindheitsentwicklung in der Vorkriegszeit verlief im Schoße der großen Familie sicher wohlbehütet“, schreibt Rüdiger Fries, „das Kind Otto erfuhr eine besondere Fürsorge der Eltern und Brüder, zumal im Kleinkindesalter eine Hirnhautentzündung und Krampfanfälle aufgetreten waren. Es waren eher ungünstige Voraussetzungen für eine ungestörte schulische Entwicklung.“
Aktion T 4
Die Ermordung von Menschen mit Behinderung („Euthanasie“) wird auch als „Aktion T 4“ bezeichnet – nach der Adresse „Tiergartenstraße 4“ in Berlin, in der sich die mit den Krankenmorden beauftragte Zentraldienststelle der „Kanzlei des Führers“ befand. Sie bediente sich der „Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft“, die in grau gestrichenen ehemaligen Postbussen mit verhüllten Fenstern die Opfer zu den Gaskammern fuhr.
1916 wird Otto in der evangelischen Volksschule Niederschelderhütte eingeschult. Er kommt nicht gut mit, wird er später erzählen. Rüdiger Fries hat keine Zeugnisse Briefe, Hinweise von Freunden oder Bekannten auf diese Zeit gefunden. „Wahrscheinlich ist, dass Otto nicht gern zur Schule ging. Er war kein guter Schüler, dem das Lernen leicht gefallen wäre.“
Mitte der 1920er Jahre beginnt Otto Päulgen eine Ausbildung zum Bauschlosser – vermutlich bei den Gebrüdern Achenbach in Weidenau, Belege gibt es darüber nicht. 1926 stirbt sein vier Jahre älterer Bruder Friedrich im Alter von nur 20 Jahren. Die älteren Brüder Heinrich und Wilhelm wandern nach Amerika aus. Rüdiger Fries stößt auf Waltraud Schneider, die sich an den jugendlichen Otto erinnert: „Er avancierte mit seinen Tanzkünsten zum Schwarm vieler Mädchen und junger Frauen.“
Der 20-Jährige: In den Einwohnerbüchern von 1931 und 1935 wird Otto Päulgen als Fabrikarbeiter aufgeführt. Am 8. Juni 1932 stirbt Ottos Vater Christian Päulgen im Alter von 59 Jahren an den Folgen eines Betriebsunfalls. „Otto Päulgens gesundheitliche und insbesondere seine psychische Situation wird sich nach dem tragischen Unfalltod des Vaters 1932 verschlechtert haben“, hat Rüdiger Fries herausgefunden. „Der Verlust dieser für ihn wichtigen Bezugsperson, die ihn behütete und beschützte, kam einer anhaltenden Traumatisierung gleich. Immer wieder traten Anfallsereignisse mit Bewusstseinsverlust auf.“ Am 1. Januar 1934 setzt das NS-Regime das „Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses“ in Kraft.
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Durch Niederschelderhütte fährt die Grubenbahn von Storch & Schöneberg zum Bahnhof Niederschelden. Als ein Kind unter einen Waggon gerät, rettet Otto Päulgen es. Am 30. Juli 1934 berichten die „Siegblätter“: „Der junge Mann wurde bereits für sein tapferes Verhalten belohnt und wird eine Auszeichnung über Lebensrettung erhalten.“
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1934 heiratet Ottos ältester Bruder Robert Erna Reinhardt, Schwester des späteren Siegener Bürgermeisters Hans Reinhardt. Auch sie wandern in die USA aus.
Die letzten Jahre: Ende Juni 1936 muss sich Otto Päulgen einer amtsärztlichen Untersuchung beim Staatlichen Gesundheitsamt Altenkirchen unterziehen. Jemand muss die Behörde auf ihn hingewiesen haben. Mit dem Hinweis auf „angeborenen Schwachsinn“ stellt der Leiter des Staatlichen Gesundheitsamtes Altenkirchen, Amtsarzt und Medizinalrat Dr. Josef Pfalsdorf, am 1. Juli 1936 einen „Antrag auf Unfruchtbarmachung nach §§ 1 bis 3 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ beim Erbgesundheitsgericht in Siegen. Rüdiger Fries zitiert den Gerichtsbeschluss vom 25. September 1936: „Auf Antrag des Amtsarztes in Altenkirchen wird die Unfruchtbarmachung des eingangs erwähnten Otto Päulgen angeordnet.“ Die Operation wird im Krankenhaus in Siegen oder in Weidenau vorgenommen. Im selben Jahr wird Otto Päulgen entmündigt, für ihn wird ein Vormund bestellt.
1941 stirbt Emma Päulgen im Alter von 60 Jahren an einem Magenleiden. Sie hatte die Unterbringung ihres Sohnes in einer Anstalt abwenden können. Otto Päulgen lebt nun allein.
Am 8. November 1941 trägt jemand den Namen von Otto Päulgen ins Gefangenenbuch des Polizeigefängnisses Hagen ein. Warum er inhaftiert wurde, hat Rüdiger Fries nicht herausfinden können.
Am 15. März 1942 wird er von der Stadtverwaltung Siegen entlassen. Ihm wird unregelmäßiges Erscheinen zur Arbeit vorgeworfen. Am 30. März 1942 wird Otto Päulgen in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Bonn eingeliefert. Seine „Verwahrung“ in der Anstalt war polizeilich vom Amtsbürgermeister in Kirchen mit Schreiben vom 25. März 1942 angeordnet worden.
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Am 17. Oktober 1942 schreibt Otto Päulgen eine Feldpostkarte an den jüngeren Bruder Artur, der als Soldat eingezogen wurde: „Es würde mich sehr freuen, wenn Du persönlich hierhin kämst, um mich abzuholen. Der Arzt hatte mir gesagt, daß Du mich abholen könntest, wenn Du Deine Hochzeit hättest. Mir geht es gesundheitlich gut, bekomme keine Anfälle mehr. Ich hoffe darum, daß Du mein Schreiben richtig verstehst und mich daher bald abholst. Viele Grüße sendet Dir Dein Bruder Otto.“
Erhalten ist Otto Päulgens Patientenakte mit dem ausgefüllten Meldebogen vom 1. Juli 1942 an die Euthanasie-Zentrale in Berlin. In einem schwarz umrandeten Feld trägt der Gutachter ein Pluszeichen ein, wenn der Patient getötet werden soll – auf diesem Bogen ist das Feld leer, die Deportationen, von Bonn aus wahrscheinlich ins hessische Hadamar, wurden gerade gestoppt.
Am 19. April 1943 flüchtet Otto Päulgen zum ersten Mal, er kommt bis Beuel. Am 21. September schafft er es bis Kirchen.
Im Mai 1945 wird seinem Bruder Artur ein Besuch verwehrt. Am 4. August, fast drei Monate nach dem Ende der Diktatur, stirbt Otto Päulgen mit gerade einmal 35 Jahren: „Exitus infolge Herzschwäche bei Lungenabszeß“, steht in der Patientenakte. Rüdiger Fries: „Otto überlebte zwar das Kriegsende. Die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten hat er aber nicht überstanden.“
Eine Erinnerung
Vergessen wird Otto Päulgen niemals: Am Freitag, 27. August, 17 Uhr, wird in der Augustastraße 21 in Niederschelderhütte ein Stolperstein für ihn verlegt.
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