Hagen. Die Hagenerin Joanna Krupa muss von ihrem nur 36 Jahre alten Mann Abschied nehmen. Und doch birgt ihre Geschichte Leben.

Nicht mehr lang ab diesem Moment, den das Foto zeigt, und José ist tot. Noch einmal ist sein Blick fokussiert. Er streicht seiner Joanna über die Schläfe. In einer Nacht, in der sie beide Forró tanzten, diesen ansteckenden und mitreißenden brasilianischen Paartanz, hatten sie sich kennengelernt. Es war der 15. Juli 2016 in einem Fischerdorf am Meer. Nur fünf Jahre später und im Alter von nur 36 Jahren muss José sterben. Eine Liebesgeschichte, so schmerzhaft tragisch. Und doch so voller Zauber und Erdung.

Leidenschaft, mit der alles begann: José und Joanna liegen sich beim Tanzen in Brasilien in den Armen.
Leidenschaft, mit der alles begann: José und Joanna liegen sich beim Tanzen in Brasilien in den Armen. © Joanna Krupa | Joanna Krupa

Joanna Krupa erzählt von den ersten Tagen des Verliebens so, als würden sie immer noch andauern. Die spätere Maschinenbau-Ingenieurin war zum Studium nach Brasilien gegangen und war in einem abgedunkelten Raum bei einem Tanz-Festival auf José gestoßen. Ein charismatischer junger Mann, intelligent, gebildet, ein Software-Ingenieur, der drauf und dran ist, die Heimat Brasilien Richtung Kanada zu verlassen, um dort sein Glück zu suchen.

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Seiner, dieser so ganz persönliche Plan, wird zu dem von ihm und jener Hagenerin, in die er sich in den kommenden Tagen Hals über Kopf verliebt. „Er war ein Mann mit einer Aura, die unbeschreiblich war“, sagt Joanna Krupa. Brasilianer würden keine langen Anstalten machen, wenn es um ein zügiges erotisches Nachspiel solcher Feierlichkeiten ginge. Doch Joanna Krupa lässt den jungen Mann warten. „Ich wollte die Liebe auf den ersten Blick nicht riskieren. Ich wusste sofort, wer da vor mir gestanden hatte. Dieser eine Mann, mit dem ich mein Leben teilen werde.“

Ein Foto voller Leben. Das Paar auf einem Urlaubstrip.
Ein Foto voller Leben. Das Paar auf einem Urlaubstrip. © Joanna Krupa | Joanna Krupa

An Tag drei küssen sie sich. Nach einer Woche beginnt eine Wochenend-Beziehung zwischen Sao Paolo und einem rund zwei Stunden entfernten Vorort. Die Größenverhältnisse in Brasilien sind anders. Der junge José ist einer unter Hunderttausenden, bereits Professor für „Computer Science“. Er wollte auswandern nach Kanada, dort auf Englisch unterrichten. „Mir war klar, dass ich diesen Traum unterstützen würde. Wir wollten uns in Kanada ein gemeinsames Leben aufbauen.“ Am 1. Januar 2018 steigen die beiden aus einem Flugzeug in Vancouver aus und beginnen ihr neues Leben.

„Wir waren immer lösungsorientierte Menschen und haben uns gleich einen Plan gemacht. Dass es auf das Ende zugeht, haben wir nicht geglaubt. Wir haben geglaubt, dass wir das drehen können. Dass Josés Fall die Restchance ist, die jedem Krebspatienten bleibt.“

Joanna Krupa

Sie leben vier Jahre dort. Bis José Ende 2019 Schmerzen wie Messerstiche in seinem Bauch empfindet. Er geht zum Arzt, will auch seinen Magen spiegeln lassen. „Aber das Ärzte- und Kassensystem in Kanada funktioniert etwas anders und so haben die zuständigen Stellen ein anderes Verfahren vorgeschlagen. Bei einer Untersuchung hat man dann ein Bakterium in Josés Magen gefunden.“

Doch das war nicht ursächlich für seine Schmerzen. Als zwei Monate später die Corona-Pandemie beginnt, schotten sich die Kanadier und erst recht ihr Gesundheitssystem ab. Und weil der Software-Entwickler seinen permanenten Aufenthaltsstatus nicht gefährden will, verlässt er zur weiteren Behandlung nicht das Land. Er hatte die Auswanderung 10 Jahre lang vorbereitet. Die Ärzte lassen nur noch akuteste Fälle in die Kliniken. José lebt weiter mit Bauchschmerzen.

Es bleiben zwölf Wochen Leben

Bis ein Chef von ihm bei einem digitalen Meeting bemerkt, wie er aufstoßen muss. Der Chef kennt einen Gastroenterologen, der eine Magenspiegelung möglich macht. Man findet etwas, macht eine Biopsie. Nach drei Wochen meldet sich eine Chirurgin. „Ich bin unsicher, ob er ihre Fachsprache verstanden hat“, erinnert sich Joanna Krupa. Sie hatte wohl schon angedeutet, wie schlimm seine Lage war. Dreimal muss er in die Notaufnahme. Drei Tage später teilt ihm eine Ärztin mit, dass sie bereits fortgeschrittenen Magenkrebs der Stufe 4 festgestellt haben. Ihm bleiben zwölf Wochen zu leben. Die Pandemie hatte eine vorzeitige Behandlung unmöglich gemacht.

„Wir waren immer lösungsorientierte Menschen und haben uns gleich einen Plan gemacht. Dass es auf das Ende zugeht, haben wir nicht geglaubt. Wir haben geglaubt, dass wir das drehen können. Dass Josés Fall die Restchance ist, die jedem Krebspatienten bleibt.“ Das Buch „Radical Hope“, das genau von diesen unwahrscheinlichen, aber glücklich geendeten Fällen erzählt, gibt ihnen Kraft. Die zehn Faktoren zur Heilung, die darin beschrieben werden, exerzieren die beiden durch. Doch der Krebs schreitet brutal schnell voran.

„Ich habe beim Tod von José meine eigene Endlichkeit gesehen. Und dadurch habe ich, bei aller Traurigkeit, meine Angst verloren. Der Tod gehört zum Leben dazu. Und jeder Mensch lebt weiter, wenn wir ihm ein Denkmal setzen. Diese Geschichte ist mein Denkmal für José.“

Joanna Krupa

Ihre letzten Tage sind voller Termine. Ein Leben muss abgewickelt werden, ein bester Freund fliegt ein. Zu dritt sitzen sie in Josés letzter Nacht auf seinem Bett. Und als der mutige, aber sterbende Software-Ingenieur in all seiner Vorwärtsgewandtheit wissen will, was der nächste Schritt ist, sagt ihm die Palliativärztin: „Jetzt liegt es bei Gott.“

José schafft die Nacht. „Aber ab 12 Uhr mittags am nächsten Tag beginnt sein Sterbeprozess. Zwei Stunden lang“, sagt Joanna Krupa. Noch einmal sagt er, dass er nicht aufgeben werde. Um etwa 14 Uhr, so beschreibt es Joanna Krupa, rollen sich seine Augen nach hinten in den Kopf. Er übergibt sich und stirbt. Und wie in einem Film, linst plötzlich, in der Dauerregen-Stadt Vancouver, die Sonne durch die Wolken. „Er war nicht mehr in seinem Körper drin. Ich habe gespürt, wie er gegangen war.“

Der Tag der Toten

Joanna Krupa, die mit einer Freundin das Reiseunternehmen „Querido Mundo“ gegründet hat, mit dem sie Menschen nach Südamerika führen, steht zwei Jahre lang vor dem psychischen Abgrund. „Ich möchte diese Geschichte aber erzählen, weil die Südamerikaner, speziell die Mexikaner, eine andere Art haben, mit dem Tod und dem Abschied umzugehen.“ Der Tag der Toten, der dort ab dem 1. November jedes Jahres gefeiert wird, wurde 2003 von der UNESCO zum „Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ ernannt

Seelen der Toten kehren zurück

Nach dem Volksglauben kehren die Seelen der Toten zu den Familien zurück, um sie zu besuchen. Während der Tage steht das Gedenken im Vordergrund. In der Nacht zu Allerheiligen wird die Ankunft der gestorbenen Kinder erwartet. Nachdem in der Nacht auf den 2. November die Seelen der verstorbenen Erwachsenen im Haus empfangen wurden, findet der Abschied auf den Friedhöfen statt. „Der Tod als Teil des aktiven Lebens im Hier und Jetzt. Ich finde das eine wunderbare Botschaft“, sagt Joanna Krupa.

„Ich habe beim Tod von José meine eigene Endlichkeit gesehen. Und dadurch habe ich, bei aller Traurigkeit, meine Angst verloren. Der Tod gehört zum Leben dazu. Und jeder Mensch lebt weiter, wenn wir ihm ein Denkmal setzen. Diese Geschichte ist mein Denkmal für José.“