Fröndenberg. Ein Jahr vor dem Abi bekam Despina Sivitanides ihren ersten Multiple-Sklerose-Schub. So geht die heute 44-Jährige mit ihrer Erkrankung um.

Mit 18 Jahren wurde Despina Sivitanides plötzlich auf einem Auge blind. Wenig später stand die Diagnose fest: Multiple Sklerose (MS). Heute ist sie 44 Jahre alt und die Autoimmunerkrankung hat deutliche Spuren hinterlassen. Doch trotz aller Rückschläge in ihrem Leben hat sich die Fröndenbergerin eine positive Einstellung zum Leben bewahrt – und bei Rückschlägen bisweilen mit viel Kraft und Mut mühsam wieder erkämpft.

„Auf dem linken Auge habe ich nur noch weiß gesehen.“

Despina Sivitanides
über ihren ersten MS-Schub

Ihre ersten Symptome traten ein Jahr vor dem Abitur auf, erinnert sich Despina Sivitanides. Im April 1999 erblindete sie: „Auf dem linken Auge habe ich nur noch weiß gesehen.“ Drei Monate konnte sie nicht in die Schule, „und das ein Jahr vor dem Abi“.

Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) ist eine entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems. Bei der Autoimmunerkrankung können sowohl im Gehirn als auch im Rückenmark chronische Entzündungen auftreten.

Bei der MS gibt es unterschiedliche Verlaufsformen. Während manche Patienten nur milde Symptome haben, gibt es andere, bei denen die Erkrankung schneller voranschreitet. Darüber hinaus kann der Therapieerfolg unterschiedlich ausfallen – auch aus diesen Gründen wird die MS auch die „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ genannt.

MS verläuft bei den meisten Patienten in Schüben. Die Entzündungen führen zum Abbau (Demyelinisierung) der Myelinscheiden, wodurch die Isolierung der Nervenfasern beeinträchtigt wird. Diese Demyelinisierung ist entscheidend für die pathophysiologischen Mechanismen der MS. Wie die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) erklärt, ist die Folge der Zerstörung der Isolierung der Nervenfasern: „Nervenimpulse werden langsamer oder überhaupt nicht weitergeleitet.“

Die entstandenen Entzündungsherde sind bei Untersuchungen im MRT-Gerät (Magnetresonanztomographie) als MS-typische Flecken (auch Läsionen oder Plaques genannt) sichtbar. Aktive Entzündungen sind bei einer MRT mit Kontrastmittel zu sehen. Zur Diagnosestellung wird in der Regel auch der Liquor, also das Nervenwasser, auf spezielle Eiweiße – so genannte oligoklonale Banden – untersucht. Diese sind bei fast allen MS-Patienten im Liquor vorhanden. Der Liquor wird durch eine Lumbalpunktion gewonnen.

Symptome der Erkrankung sind unter anderem motorische Störungen, Sehstörungen, Müdigkeit (Fatigue) und Sensibilitätsstörungen der Haut.

Die genauen Ursachen der MS sind nicht vollständig verstanden. Die Medizin geht von einer multifaktoriellen Entstehung aus. Möglicherweise kann eine Kombination aus genetischen Faktoren, Umweltfaktoren und dem Immunsystem eine Rolle spielen. Auch Virusinfektionen, Vitamin-D-Mangel, Rauchen und bestimmte genetische Veranlagungen werden als Auslöser diskutiert.

Die Behandlung fußt laut DMSG auf drei wissenschaftlich fundierten Therapiesäulen: Therapie des akuten Schubs, verlaufsmodifizierende Therapie und symptomatische Therapie.

Despina Sivitanides bekam hochdosiertes Kortison – ein Standardverfahren bei Multiple-Sklerose-Schüben. Zusätzlich nahm sie dann für viele Jahre ein Basis-Medikament, das neue Schübe verhindern sollte. „Ich habe im Laufe der Jahre fast alle Basis-Medikamente durch“, fasst Despina Sivitanides ihre Erfahrungen zusammen. Die Nebenwirkungen seien bei ihr immens gewesen, so dass sie ein Medikament nach dem anderen absetzen musste.

Menden, Fröndenberg
Despina Sivitanides ist seit 26 Jahren an Multipler Sklerose (MS) erkrankt. © WP Menden | Corinna Schutzeichel

2013 habe sie dann wegen ihrer MS eine Therapie bekommen, die eigentlich bei Krebs-Patienten eingesetzt werde, blickt Despina Sivitanides zurück. Auch hier überwogen die Nebenwirkungen: „Ich bin fast erstickt, weil ich allergisch reagiert habe, und ich musste beatmet werden.“ Nichts half. In vergleichsweise kurzer Zeit habe sie neun Schübe erlitten. Mal eine Lähmung, mal eine Sehnerv-Entzündung, mal Taubheit von Armen oder Beinen oder Stellen im Gesicht, mal ein Kribbeln, mal Gleichgewichts- und Gangstörungen: „Ich habe dann innerhalb von drei Monaten insgesamt 32.000 mg Cortison bekommen.“  Durch das hochdosierte Cortison seien die Symptome meist wieder zurückgegangen.

„Ich hatte ja immer massive Nebenwirkungen, aber nichts hat geholfen. Schübe habe ich trotzdem bekommen. “

Despina Sivitanides

Dann brach sich Despina Sivitanides das Schienbein – eine Trümmerfraktur, die monatelanges Liegen nach sich zog. Ein neuer Rückschlag, aus dem sich Despina Sivitanides zurückkämpfen musste.

Menden, Fröndenberg
Despina Sivitanides ist 44 Jahre alt und die Autoimmunerkrankung hat deutliche Spuren hinterlassen. Die Fröndenbergerin ist im Alltag oft auf ihren Rollstuhl angewiesen. © WP Menden | Corinna Schutzeichel

Zudem verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand im Laufe der Jahre immer weiter. Schließlich entschied sich die gebürtige Triererin, alle Basis-Medikamente gegen ihre Multiple Sklerose abzusetzen: „Ich hatte ja immer massive Nebenwirkungen, aber nichts hat geholfen. Schübe habe ich trotzdem bekommen. Dann hat mein Arzt mir THC verordnet.“ Das medizinische Cannabis hilft nicht gegen den Fortschritt der Erkrankung, aber gegen die Symptome, „gegen Spastik und die Schmerzen“, erzählt Despina Sivitanides.

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Die Fröndenbergerin war schon als junges Mädchen körperlich sehr aktiv, gerne in Bewegung. Sie tanzte im Ballett, spielte Leichtathletik an einem Hochbegabten-Gymnasium in ihrer Heimatstadt. Umso stärker traf es sie, dass mit dem Fortschreiten der Multiple Sklerose manche Bewegungen ihre Leichtigkeit verloren.

„Wenn ich morgens im Bad fertig bin und gefrühstückt habe, dann bin ich teilweise schon fertig für den Tag.“

Despina Sivitanides
über das MS-Symptom Fatigue

Eines der sehr belastenden – unsichtbaren – Symptome, die Despina Sivitanides quälen, ist die Fatigue, eine unendlich schwere, bleierne, kraftraubende Müdigkeit, die auch nach ausreichend Schlaf nicht verschwindet: „Wenn ich morgens im Bad fertig bin und gefrühstückt habe, dann bin ich teilweise schon fertig für den Tag.“ Auch der Tremor, der ihre rechte Hand oft zu ungewollter Bewegung zwingt, setzt ihr zu. Dass ihr mal was aus der Hand fällt und am Boden zerschellt, kann schnell vorkommen: „An manchen Tagen ist es besser, an anderen schlechter.“

Menden
Dieses Bild zeigt Despina Sivitanides und hängt in ihrer Wohnung - dazu der Hinweis "Happiness is an inside job". Eine Freundin machte die Aufnahmen. © WP Menden | Corinna Schutzeichel

Ihren bislang letzten MS-Schub hatte die Fröndenbergerin im November 2023. „Stress und MS-Schub, das hängt bei mir zusammen“, hat sie im Laufe der Jahrzehnte gelernt. Das sei auch bei anderen MS-Betroffenen häufig der Fall, weiß sie aus vielen Gesprächen: „Ich hab‘ noch nie einen Schub bekommen, wenn es mir ansonsten in meinem Leben gut ging.“

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In ihrer Wohnung hangelt sich die 44-Jährige von Möbelstück zu Möbelstück, hält sich fest, wenn die MS ihre Welt ins Wanken bringt. Wenn sie sich außerhalb der Wohnung fortbewegen will, braucht Despina Sivitanides seit einigen Jahren einen Rollstuhl: „Ich sehe den Rollstuhl als Hilfsmittel, als Erleichterung für mich.“ Die Angst, zu fallen, ist nach vielen Stürzen ohnehin groß.

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Im Alltag wird Despina Sivitanides von zwei Hilfskräften unterstützt: „Über ein Budget für die Soziale Teilhabe werden zwei Assistentinnen finanziert, die mehrmals in der Woche bei mir sind.“ Auf diese Weise könne sie zum Beispiel auch mal ins Kino gehen oder einen Trödelmarkt besuchen: „Alleine würde ich das nicht schaffen.“ Darüber hinaus hilft ihr eine weitere Kraft bei Arbeiten im Haushalt.

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Die MS hat Despina Sivitanides einiges genommen, darunter auch ihren Lebenstraum, Archäologie zu studieren, erzählt sie: „Damals hieß es, dass ich es ja wohl kaum zu irgendwelchen Ausgrabungsstätten schaffen könnte.“ Etliche Schicksalsschläge, die sie – neben der MS – im Laufe ihres Lebens trafen, haben dafür gesorgt, „dass ich oft viel geweint habe“.

Schule für Lebenskunst

Doch die Mutter eines Kindes, das beim Ex-Mann lebt, hat trotz aller Herausforderungen ihren Lebensmut nicht verloren. Die 44-Jährige, die Philosophie, Neuere deutsche Literaturgeschichte und Deutsche Philologie an der Universität Trier und RWTH Aachen studierte, und unter anderem an Schulen Kinder, Jugendliche und Lehrkräfte mit ihrer Arbeit unterstützte, hat 2007 in Aachen eine „Philosophische Praxis“ (www.gedankenkabinett.de) gegründet: „Das ist eine Schule für Lebenskunst, Wissen, Sprache und Glück“, erklärt sie. Heute führt sie die Praxis in Fröndenberg fort und möchte dort anderen Menschen Resilienz und Achtsamkeit beibringen.

Resilienz und Achtsamkeit

Denn Resilienz und Achtsamkeit sind die Faktoren, die auch ihr selbst täglich Kraft geben. Die MS habe ihr auch einiges Positives gebracht: „Selbstliebe; dass ich merke, wann ich eine Pause brauche; Geduld; die richtige Priorisierung im Leben. Mir hilft achtsame Selbstfürsorge extrem – Achtsamkeit beim Essen, beim Atmen“, erklärt Despina Sivitanides. „Ich wertschätze, dass ich hier leben darf. Und da brauche ich gar nicht bis nach Gaza zu gucken. Da reicht es auch, wenn ich mir manche Stadtteile in Deutschland angucke.“ Und auch aus ihrem Glauben als Christin schöpft Despina Sivitanides Kraft. Die Herausforderung MS hat „meine Skills geschärft“.

Zu schaffen machte ihr jahrelang, dass sie ihre einst geliebten hohen Schuhe nicht mehr tragen konnte. Bis eine Freundin sie fragte, warum sie die Schuhe denn nicht einfach anzieht: „Das war ja im Rollstuhl kein Problem mehr. Ich hab‘ die Schuhe dann wieder rausgeholt und angezogen.“

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Wo sie sich in fünf oder zehn Jahren sieht? – Despina Sivitanides schüttelt den Kopf: „Ich weiß nicht, ob ich dann noch lebe. Ich lebe heute. Ich mache einen Wochenplan, viel weiter gehe ich nicht.“

„Es wäre schön, wenn es unwichtig ist, ob jemand behindert ist oder nicht.“

Despina Sivitanides

Doch sie hat einen Herzenswunsch für die Zukunft: „Es wäre schön, wenn es unwichtig ist, ob jemand behindert ist oder nicht.“ Bei ihren täglichen Ausflügen mit dem Rollstuhl hat sie oft positive Begegnungen – doch das ist nicht selbstverständlich. Denn Despina Sivitanides hat in ihrem Leben auch viel Diskriminierung erlebt, erzählt sie. Es „wäre schön, wenn ich nicht das Gefühl haben müsste, dass mich alle anstarren, weil ich im Rollstuhl sitze. Wenn es einfach normal wäre, dass auch Menschen im Rollstuhl oder mit einer anderen Behinderung unterwegs sind.“ Sie wünsche sich, „dass die anderen nicht vor allem den Rollstuhl sehen, sondern mich als Menschen“.