Menden. 41-Jähriger hat sich sein ganzes Leben so gefühlt, als ob er nicht dazugehört. Seine Hochsensibilität stellt ihn vor Herausforderungen.

Schon als Kind hat sich Ben (Name der Redaktion bekannt; zum Schutz des Betroffenen geändert) immer anders gefühlt, feinfühliger, sensibler. Über Jahrzehnte hat er versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihm vieles zu laut, zu hell, zu hektisch – einfach viel zu viel – war. Das Gefühl absoluter Reizüberflutung setzt bei ihm früher ein als bei anderen Menschen. Dass er sich seine Qualen nicht hat anmerken lassen, hat so lange funktioniert, bis Ben irgendwann zusammenbrach. Heute weiß der 41-Jährige, woran viele seiner Herausforderungen liegen: Er ist hochsensibel.

Auch interessant

Vor einigen Monaten hat die WP über Andrea Nagel berichtet. Die Mendenerin ist ebenfalls hochsensibel, nimmt Gefühle anderer besonders intensiv wahr. Sie selbst weiß erst seit gut zehn Jahren von ihrer Hochsensibilität, hat deshalb gelernt, auf ihre eigenen Grenzen und Belastungen zu achten und Neinsagen zu lernen – eben auf ein Leben in Balance zu achten. Andrea Nagel berät andere zu dem Thema und hat einen Stammtisch für Betroffene ins Leben gerufen. Als Ben den WP-Bericht las, fand er sich bestätigt in dem Verdacht, dass er selbst hochsensibel sein könnte. Später machte er einen Test, der ebenfalls eindeutig ausfiel: „Volltreffer in fast allen Punkten.

Ben weiß derzeit nicht, ob und wie er in seinen Beruf zurückkehren kann. Oft fällt es ihm schwer, seinen Alltag zu bewältigen (Symbolbild).
Ben weiß derzeit nicht, ob und wie er in seinen Beruf zurückkehren kann. Oft fällt es ihm schwer, seinen Alltag zu bewältigen (Symbolbild). © picture alliance/dpa | Sina Schuldt

Wenn Ben auf seine Kindheit und Jugend, auf sein bisheriges Leben zurückblickt, sagt er: „Ich hab‘ mich immer so gefühlt, als ob ich nicht dazugehöre. Ich hab‘ mich gefühlt wie ein Alien.“ Schon als Kind sei er Mitglied in vielen Gruppen und Vereinen gewesen, habe dort viel Zeit verbracht: „Das war einfach normal bei uns. Aber eigentlich ging es mir meistens nicht gut dabei.“ Zudem sei er in seiner Kindheit und Jugend körperlichen und psychischen Übergriffen ausgesetzt gewesen, was ihm bis heute immer wieder zu schaffen mache.

Auch interessant

In seinem einst großen Freundeskreis hat Ben sich nie wirklich wohl gefühlt: „Ich stand da permanent unter ganz hohem Druck.“ Dabei, das weiß Ben selbst, sei dieser Druck gar nicht von außen gekommen: „Ich habe mir schon immer sehr viele Gedanken darum gemacht, was andere über mich denken.“ Nach Treffen mit Freunden oder einem Aufenthalt in größeren Menschengruppen fühlte Ben sich stets ausgepowert, extrem kraftlos und erschöpft.

„Ich hatte Panikattacken und Schwindelanfälle.“

Ben
ist hochsensibel

Als Ingenieur war er es gewohnt, auch beruflich unter Druck zu funktionieren. Vor gut zehn Jahren, nachdem er zusätzlich zu seinem stressigen Job auch noch eine Weiterbildung absolviert hatte, folgte ein Burnout. In Psychotherapien versuchte Ben zu lernen, mehr auf seine Kraft, auf seine Balance zu achten. Manches half, aber es gab keinen grundlegenden Durchbruch in Richtung Gesundung. Bens Akku füllte sich nicht mehr richtig. Seine Arbeit empfand Ben als Spießrutenlauf, „ich hatte Panikattacken und Schwindelanfälle“. Aber eines änderte sich vorerst nicht: Er funktionierte weiterhin – zumindest nach außen: „Innerlich fühlte es sich an wie eine Maschine, die permanent auf Hochtouren läuft.“

Auch interessant

Vor zwei Jahren ging dann gar nichts mehr: Ben kündigte seine Stelle. Der 41-Jährige versucht nun, seine Energie zurückzugewinnen. Ein langes Wochenende, ein Urlaub – das kann hier nicht ausreichen, betont Andrea Nagel: „Er ist sein ganzes Leben über seine Grenzen gegangen. Das kann man nicht mal eben ausgleichen. Es gibt viele Hochsensible, die sind über viele Jahre in einem angepassten Zustand, um der Norm zu entsprechen.“

„Ich fühle mich häufig so erschöpft, das würde nicht gutgehen.“

Ben
über einen möglichen Wiedereinstieg in seinen Beruf

Es gibt Tage, da steht Ben auf, geht ins Bad, trinkt danach einen Kaffee – und ist so erschöpft, dass er sich wieder hinlegen muss, erzählt er. An anderen Tagen „schaffe ich es, den Alltag halbwegs zu bewältigen“. Derzeit lebt er von Rücklagen, die er sich während seiner Berufstätigkeit aufbauen konnte, ist dankbar, dass das möglich ist. Es gehe ihm besser als vor zwei Jahren, aber an einen Wiedereinstieg in seinen alten Beruf sei derzeit nicht zu denken: „Ich fühle mich häufig so erschöpft, das würde nicht gutgehen.“ Viele Überstunden, Zeitdruck, ein Großraumbüro mit einem hohen Lärmpegel: „Das könnte ich nicht mehr.“ Dennoch treibt ihn die Sorge, die Gedanken, wie es beruflich weitergeht, Tag für Tag um: „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Aber wenn Erwartungshaltung auf Hochsensibilität trifft, dann funktioniert das nicht.“

„Hochsensible müssen in ihrer Berufung arbeiten.“

Andrea Nagel
ist hochsensibel

Viele hochsensible Persönlichkeiten haben sich beruflich selbstständig gemacht, weiß Andrea Nagel. So wie sie selbst: „Hochsensible müssen in ihrer Berufung arbeiten.“

Menden
Andrea Nagel ist hochsensibel. Die Mendenerin hat für Menschen, die hochsensibel sind, einen Stammtisch gegründet. Das Treffen findet einmal pro Quartal in ihren Praxisräumen am Hülschenbrauck statt.  © WP Menden | Corinna Schutzeichel

Auf der einen Seite ist Ben froh, dass das, was ihn über so viele Jahre belastet hat, endlich einen Namen hat, dass er um seine Hochsensibilität weiß. Aber auf der anderen Seite würde er sich wünschen, dass seine Herausforderungen sichtbar wären: „Das macht mich manchmal wütend, weil die Einschränkungen oft so gravierend sind, dass sie mein ganzes Leben bestimmen.“ Ein gebrochener Knochen sei sichtbar, „Erschöpfung und psychische Leiden sind es häufig nicht oder nur mit hohem medizinischen Aufwand. Ich hoffe, dass es in der Medizintechnik irgendwann einfache Messmethoden hierfür gibt, das würde vielen Menschen viel Leid ersparen.“

Hochsensibel zu sein, ist keine Störung, keine medizinische Diagnose

Hochsensibel zu sein, ist indes keine Störung, keine medizinische Diagnose, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, erklärt Andrea Nagel. In der Medizin werde Hochsensibilität derzeit „als Modediagnose angesehen“. Nichtsdestotrotz gibt es für den Stammtisch, den Andrea Nagel für hochsensible Menschen ehrenamtlich ins Leben gerufen hat, schon eine Warteliste.

„Stark sein“, „Keine Schwäche zeigen“, „Was sollen die Leute von mir denken?“

Dass Ben als Mann zu seiner Hochsensibilität steht, sei die Ausnahme, erläutert Andrea Nagel: „Sie kommen doch alle nicht aus der Höhle.“ Stattdessen stehen Glaubenssätze wie „Stark sein“, „Keine Schwäche zeigen“ und „Was sollen denn die Leute von mir denken?“ bei den meisten Männern immer noch im Vordergrund, stellt Andrea Nagel fest.

Viele Menschen sind abgestumpft

Auch Ben überlegt sich sehr genau, wem er von seiner Hochsensibilität erzählt: „Als Mann seine Emotionen zu zeigen, ist nach wie vor schwierig.“ Viele Menschen seien abgestumpft. Seinen Freundeskreis hat er stark reduziert. Geblieben sind diejenigen, „mit denen ich offen darüber sprechen kann, wie es mir geht“.

„Smalltalk ist für mich Folter.“

Ben
ist hochsensibel

Oberflächlichkeit ist für Ben eine Zumutung. Als der Nachbar neulich an der Mülltonne ein paar Sätze mit ihm wechseln wollte, konnte Ben es nicht aushalten, ist dann einfach weggegangen: „Smalltalk ist für mich Folter.“

Auch Treffen mit Freunden sind für Ben anstrengend

Wenn es möglich ist, verzichtet er auf feste Termine: „Klar muss ich zum Beispiel beim Arzt einen Termin machen. Aber das will ich nicht auch noch im Privatleben.“ Er trifft sich mit wenigen guten Freunden spontan – „wenn die Kraft an dem Tag reicht“. Soziale Interaktionen strengen Ben immer an, erklärt er: „Das zieht bei mir Energie, auch wenn es Freunde sind.“

„Mir geht es sehr gut, wenn ich Zeit alleine im Wald verbringe. Da bin ich viel zu Fuß oder auch mit dem Fahrrad unterwegs.“

Ben
ist hochsensibel

Seine Gedanken kann Ben besser ordnen und seinen Akku etwas aufladen, wenn er schreibt: „Ich schreibe dann alles auf, was mir durch den Kopf geht“, erzählt der 41-Jährige. Erholung findet Ben auch, wenn er alleine ist. Seine Partnerin verstehe dies und fühle sich dadurch nicht zurückgesetzt. „Mir geht es sehr gut, wenn ich Zeit alleine im Wald verbringe. Da bin ich viel zu Fuß oder auch mit dem Fahrrad unterwegs.“ Absolute Ruhe – so lädt Ben seine Akkus langsam wieder auf: „Und Waldgeräusche stören mich nie.“