Dellwig. Zum Gedenken an die Opfer der Pogrome begeben sich Kirchengemeinde und Stadtarchivar im November auf Spurensuche im Fröndenberger Westen.
„Eigentlich ist es peinlich für Fröndenberg, noch auf den Zug aufgesprungen zu sein“, sagt Pfarrer Jörg Müller. Gemeint ist damit die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Denn in der Ruhrstadt zogen Nationalsozialisten erst einen Tag später gewaltsam an jüdischen Geschäften und Häusern vorbei. 86 Jahre später wollen die Kirchengemeinden Fröndenbergs der Opfer abermals gedenken. Dabei gehen die Organisatoren diesmal neue Wege.
Metzgerei und Lebensmittelgeschäfte
Wenn Fröndenbergs Stadtarchivar Jochen von Nathusius durch die Geschichte der Ruhrstadt führt, dann lauschen die Menschen seinen Erzählungen. Kein Wunder also, dass er sich für evangelische und katholische Kirchengemeinden auf die Suche begeben hat nach den jüdischen Familien, die vor allem im Fröndenberger Westen die Gräueltaten der Nationalsozialisten miterleben mussten. Seit 2005 gedenken Kirchengemeinden und Stadtverwaltung den Opfern der Reichskristallnacht. Den Auftakt seinerzeit bildeten Gedenkveranstaltungen im früheren Dellwiger Gemeindehaus und in der Stadtmitte. Nachfahren der jüdischen Gemeinde in Fröndenberg reisten damals gar aus den USA an.
„Eigentlich ist es peinlich für Fröndenberg, noch auf den Zug aufgesprungen zu sein.“
2024 kehren die Organisatoren zurück in den Ortsteil, der in der Aufarbeitung seither nur wenig Berücksichtigung fand, so Jochen von Nathusius. „Auch in Dellwig haben natürlich jüdische Mitbürger gewohnt.“ Drei Familien hat der Fröndenberger Stadtarchivar in den vergangenen Monaten in historischen Unterlagen ausfindig machen können. Allerdings habe nur eine Familien zur Zeit der Pogrome noch in Dellwig gelebt. In den Niederlanden seien zudem einige von ihnen hingegen später aufgegriffen, deportiert und anschließend ermordet worden. Ob es im Fröndenberger Westen überhaupt Pogrome gab, ist bis heute weder sicher belegt noch widerlegt, betont der Stadtarchivar.
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Alle Familien seien demnach Geschäftsleute gewesen. Noch dazu weltoffen. Rind- und Schweinefleisch aus der Metzgerei Grüneberg, Südfrüchte aus den Lebenmittelläden Cohen oder Rosenthal. „Die Geschäfte waren meist rund um die Kirche verteilt“, sagt von Nathusius. Das habe tatsächlich einen ganz einfachen Grund gehabt, vermutet der Stadtarchivar. Während der Samstag, der Sabbat, der Ruhetag im Judentum ist, ist es im christlichen Sinne der Sonntag. Nach den Messen konnten die Dellwiger so sogar noch ihren Wocheneinkauf erledigen.
Aufwändige Spurensuche in Fröndenberg
An der aufgeheizten Stimmung während der NS-Herrschaft kommen allerdings auch die Fröndenberger seinerzeit nicht vorbei. So hätten oftmals die Kinder ihre Eltern dazu überredet, zu flüchten – noch vor der sogenannten Reichskristallnacht. Hilfe haben sie dabei unter anderem von einer evangelischen Gemeindeschwester bekommen. Doch wie die Verfolgten selbst mussten auch Helferinnen und Helfer befürchten, von Nachbarn denunziert zu werden. „Im Herbst 1938 hat sich diese Gemeindeschwester dann versetzen lassen. Vermutlich wegen der Anfeindungen in Dellwig“, erklärt der Stadtarchivar.
Pogromgedenken in Dellwig
Die Gedenkveranstaltung, die Pfarrer Jörg Müller leiten wird, findet am Sonntag, 10. November, 11 Uhr in der Dellwiger Kirche statt.
Für die Aufarbeitung der Historie ist 2005 die Arbeitsgemeinschaft „Spuren jüdischen Lebens“ einberufen worden. Seither ist „weitestgehend alles erforscht“, sagt Stadtarchivar Jochen von Nathusius. Teil der Arbeitsgemeinschaft sind die drei evangelischen Kirchengemeinden Fröndenbergs, der Pastorale Raum Unna-Fröndenberg-Holzwickede, das jeweils amtierende Stadtoberhaupt sowie engagierte Bürger.
An die Familie Cohen erinnert ein Stolperstein. Doch den suchen Geschichtsinteressierte wohl vergeblich. Der Stein ist seinerzeit vom Künstler Gunter Demnig auf einem Privatgelände in Dellwig verlegt worden. Wenngleich der Stein selbst städtisches Eigentum ist, haben sich die Eigentümer aus Angst vor rechtsradikalen Anfeindungen dennoch dazu entschieden, „schnell einen Blumentopf draufzustellen“. Der Stadt seien dabei die Hände gebunden, einen Gehweg gebe es an der Stelle nicht. Stolpersteine für die Familien Grüneberg und Rosenthal gibt es nicht.
„Auch in Dellwig haben natürlich jüdische Mitbürger gewohnt.“
Dass Jochen von Nathusius das Leben der jüdischen Familien so genau nachzeichnen kann, liegt vor allem an alten Akten aus dem Standesamt oder aus Schülerverzeichnissen. Nach 1938 sind Jüdinnen und Juden aufgefordert worden, sich zur besseren Erkennung die Zweitnamen „Sara“ oder „Israel“ geben zu lassen. Memoiren eines Vorgängers von Pfarrer Jörg Müller hingegen offenbaren zwar zahlreiche Erzählungen, etwa zur Möhne-Katastrope, von jüdischen Familien allerdings keine Spur.