Dortmund. Früher konnten Menschen hier ihre verbotenen Lüste ausleben, nun droht bald der Abriss. Ein letzter Besuch im Studio X.
Nur die knallroten Schilder über dem verschlossenen Rolltor deuten darauf hin, was sich einst hinter den Wänden des dreistöckigen Wohnhauses mit Ladenzeilen im Erdgeschoss abspielte: „Vormals Studio X. Das ultimative Kino. Ab 18 Jahren täglich“, steht da in schlichter schwarzer Schrift zwischen grauer Kachelfassade, einem Friseur und einem syrischen Restaurant. Seit 2017 steht das Sex-Kino Studio X leer und verwahrlost am Eingang zur Dortmunder Nordstadt, direkt gegenüber der Polizeiwache.
Früher ein Ort für verborgene Sehnsüchte, heute ein Quartier für Obdachlose, Spielplatz von Mutproben und Kulisse für Fotografen wie Hendrik Müller (56). Doch nicht nur zum Verfall verurteilte Tristesse ist in die Genetik des Gebäudes eingeschrieben. Es war auch Zufluchtsort für jene, die ihre Homosexualität nur im Verborgenen ausleben konnten. Mit dem bevorstehenden Abriss verblasst diese Ära. Müller nimmt uns mit hinter die Fassade des Kinos und damit in ein vergessenes Kapitel der Stadtgeschichte.
Studio X: Altes Sex-Kino als Labyrinth
Hendrik Müller schiebt die Tür zum Studio X auf. Ein Korridor in Orange führt in die Parallelwelt des Kinos. Ein handgemaltes Comic-Kondom im 70er-Jahre-Stil wirbt am Kassenhäuschen mit sieben Stunden Spielzeit. Aus den Mauern strömt die Erinnerung an alte Reinigungsmittel. Von Kaffeetassen bis Sexpuppen: Auch Jahre nach der Schließung sind Relikte aus dem alten Pornokino erhalten. Warum? Das kann nicht mehr genau nachverfolgt werden, die ehemaligen Betreiber sind längst verschwunden.
Müller selbst erfuhr in einem Zeitungsartikel vom geplanten Abriss des traditionsreichen Gebäudes, hat es seitdem mehrfach besucht. In seiner Jugend fing der gelernte Krankenpfleger an, Szenen in seinem Alltag zu fotografieren. Vom männlichen Akt bis zur Panoramafotografie widmet er sich heute einer großen Bandbreite, dokumentiert urbane Szenen, U-Bahn-Schächte und Lost Places wie das Studio X.
In den Anfängen gibt es nur einen Kinosaal mit Holzvertäfelung und gemütlichen Sesseln. Dann wird das Kino umgestaltet. Ein Flamingo-farbener Rundgang verbindet schließlich drei kleine Vorführsäle. Triste Holzbänke mit abgenutzten Lederpolstern sind einer Leinwand zugewandt, die von Audio-Boxen umrahmt ist. Mehr gibt es in den spärlichen Räumen nicht, in denen einst Menschen gemeinsam Sexstreifen schauten. Bis in die 90er Jahre kontrollierte ein Kunde aus eigenem Antrieb, dass sich niemand miteinander vergnügte, erinnern sich ehemalige Gäste gegenüber Müller.
Erinnerungsprojekt zum Studio X: Schwule Geschichte zwischen Heim und Zuflucht
Über Dating-Portale hat der Fotograf mit mehr als 20 ehemaligen Kunden des Studio X gesprochen, ihre Anekdoten und Geschichten gesammelt. Warum sie dorthin gegangen sind? Die Antwort ist kurz: „Weil es woanders nicht ging.“ Homosexualität öffentlich auszuleben, war riskant, bis 1994 sogar strafbar – ein Coming-Out daher schwierig. Viele führten stattdessen ein Leben mit Geheimnis, versteckt in dem Gerüst gesellschaftlicher Erwartungen: Eine frühe Heirat mit Kindern, die oft scheitert.
Das Gebäude gleicht einem Labyrinth. Ein abschüssiger Korridor – nachtblau, dekoriert mit Graffiti im Stil der Nullerjahre – führt zu roten Videokabinen, ein Versuch, etwas Privatheit zu wahren. In der zerbrochenen Vitrinen stehen noch die Hüllen alter Filmstreifen, die Kunden zur Auswahl hatten. Ein Schild mahnt: „Achtung! Bitte nicht zu zweit die Kabine betreten.“ Nach dem Abspann des Films beseitigten Angestellte die Spuren des Treibens. Für elf Euro konnten Gäste 2014 den ganzen Tag hier verbringen, inklusive zwei Tassen Kaffee oder Tee.
Das Studio X sei eine Welt für sich gewesen, so erzählen es die Gesprächspartner dem Fotografen. „Wer es betritt, sucht eine Zuflucht vor dem Alltag.“ Denn wer an diesen geselligen und gleichsam trostlosen Ort geht, taucht von dem Leben zu Hause ins Geheime ab, um seine Sehnsüchte zu befriedigen. Müller erzählen sie, dass sie sich dort auch mit Prostituierten oder festen Bezugspersonen getroffen haben. Denn in das Studio X zu gehen, sei besser gewesen als in ein Stundenhotel. Die dort bei der Buchung anzugebenden Ausweisdaten, berichtet Müller, wurden in den 70er Jahren an die Polizei weitergemeldet und in sogenannten Rosa Listen gesammelt. So wurden polizeiliche Überwachungslisten für Homosexuelle genannt.
„Wer es betritt, sucht eine Zuflucht vor dem Alltag.“
Als Müller das Kino zum ersten Mal betreten hat, ist er „einfach durch die Vordertür reinspaziert“, denn diese steht lange offen. Mittlerweile wurde die Technik der 90er-Jahre von den Wänden geschraubt, und sämtlicher Metallschrott entwendet, der nun vielleicht versilbert draußen im wirklichen Leben verkauft wird. Erst Anfang Oktober sind dort Vandalen in der Nacht eingestiegen. Womöglich ein Grund, warum die Eingänge nun zugemauert sind.
Mit der abrupten Schließung 2017 endet das Kapitel der Dortmunder Studio-X-Geschichte. Für die Gäste bricht ein bedeutender Teil ihres Lebens weg – und das überraschend. „Abends hat es zugemacht und am nächsten Tag nicht mehr aufgemacht.“ Offiziell wegen Konkurs, aber eigentlich aus steuerlichen Gründen, so vermutet es Müller, da ein neues Gesetz hohe Abgaben für Vergnügungsflächen vorschreibt – nicht finanzierbar für das 1000 Quadratmeter große Gebäude.
Seine Blütezeit hatte es schon längst hinter sich. Anfangs das Apollo-Theater, dann 1912 Decla-Lichtspiele, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Trümmern des 30er-Jahre Kinos neu eröffneten. 1978 wurde schließlich die Ära als Erotik-Kino eingeleitet, das verschiedene Inhaber über die Jahre mehrfach umbauten.
Erotik-Kinos als Zufluchtsort und Pläne für das Studio X
Heute liegen im Foyer Schlafsäcke – Obdachlose haben das Gebäude erobert. Es zieht nicht, ein wenig Tageslicht fällt durch die abgeklebten Fenster. Zur Dämmerung kommen die Menschen, richten sich Schlafplätze ein und verbringen die Nacht dort – auch für den Konsum von Drogen. Auf den Treppen in das obere Stockwerk riecht es nach Katzenfutter, Alufolienfetzen liegen auf den Stufen. Ohne Strom, Wasser und nutzbare sanitäre Einrichtungen haben sich Menschen auch in der ersten Etage eingerichtet. „Sie haben sich Betten hingeschafft“, beschreibt Müller: „Es sah aus wie eine Wohnung.“
Nach sieben Jahren Verfall steht nun der Abriss Ende des Jahres bevor. Damit wird der Weg frei für das „Quartier Burgtor“, das auf dem ehemaligen Pornokino und der Brache davor realisiert wird: ein multifunktionaler Komplex mit 17 Stockwerken auf rund 4000 Quadratmetern und 60 Metern Höhe, begrüntem Innenhof, begehbarer Dachfläche, dreistöckiger Tiefgarage und einer Polizeiwache, die Ende 2026 einziehen soll. Der Neubau soll eine neue „Landmarke an der Grenze zur Nordstadt“ bilden, sagt der operative Geschäftsführer der Linim Service GmbH, Henning Wietzorke.
Ausstellung zum Pornokino im Dezember
In der Geschichte Dortmunds hat das Kino kaum Spuren hinterlassen. Das könnte sich mit dem Erinnerungsprojekt von Hendrik Müller ändern. „Da diese Orte gesellschaftlichen Lebens verschwinden, versuche ich sie zumindest virtuell zu erhalten“, erzählt er. Anstatt sie nur fotografisch zu dokumentieren, schafft Müller durch digitale Panoramatechnik einen virtuellen Rundgang, hinterlegt mit Detailaufnahmen, Ton und Text. So führt er durch die Atmosphäre des alten Studio X und erinnert gleichzeitig an eine Zeit versteckter Sexualität.
„Da diese Orte gesellschaftlichen Lebens verschwinden, versuche ich sie zumindest virtuell zu erhalten.“
Mit seiner Künstlergruppe um Silvia Liebig und Achim Zepezauer eröffnet er am Samstag, 14. Dezember, im Hans A in der Nähe vom Westentor in Dortmund eine Ausstellung unter dem Arbeitstitel: „X – Die Moral ist immer die letzte Zuflucht der Leute, welche die Schönheit nicht begreifen“ – ein Zitat von Oscar Wilde. Nach der Finissage sollen die gesammelten Materialien in das Stadtarchiv übergehen und so als Teil der Geschichte erhalten bleiben, die sonst in Vergessenheit geraten würde – mit der niemand etwas zu tun haben wollte, aber alle kennen. Aktuell sucht Müller noch ehemalige Mitarbeiter und weitere Interviewpartner, die ihm etwas über das Kino erzählen.