Hochsauerland. RSV-Impfstoffmangel im Sauerland: Der dringend benötigte Schutz für Säuglinge ist schwer zu bekommen. Experten üben scharfe Kritik.
Für einen Beinahe-Kollaps sorgte ein Virus vor gute zwei Jahren auf den Kinderstationen der umliegenden Krankenhäuser. Inzwischen wurde ein Impfstoff gegen das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) ) entwickelt, der aber aktuell mitunter nur schwer erhältlich ist. Warum ist das so und droht dadurch die nächste Katastrophe in den Kinderkliniken?
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Kreisweit sind bislang in diesem Jahr 48 Fälle von RSV-Infektionen an das Robert-Koch-Institut gemeldet und dort bestätigt worden. Die Dunkelziffer ist vermutlich höher. Im gesamten Jahr 2023 waren es nur 18 Fälle. Das RS-Virus ist ein weltweit verbreiteter Erreger von akuten Erkrankungen der oberen und unteren Atemwege in jedem Lebensalter. Er ist aber einer der bedeutendsten Erreger von Atemwegsinfektionen bei Säuglingen, insbesondere Frühgeborenen, Kleinkindern sowie älteren Erwachsenen. Die Situation ist heute anders als vor zwei Jahren: Es gibt einen lang ersehnten Arzneistoff, der vor der Erkrankung schützen soll. Aber das Präparat ist nicht immer sofort verfügbar.
Lieferengpässe
Das bestätigt die Briloner Pharmazeutin Sandra Dietrich-Siebert. Sie leitet die Adler-Apotheke in Brilon und ist Vorsitzende der Bezirksgruppe Hochsauerland im Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL). „Lieferengpässe sind immer tagesaktuell. Ich könnte jetzt heute sogar eine Einer-Packung bekommen, aber generell gibt es mit dem Präparat in der Tat Lieferprobleme“, sagt die Fachfrau beim Blick in den Computer. Eltern, die ihre Kinder vor dem RS-Virus schützen wollen, empfiehlt sie, zur Not bei mehreren Apotheken vor Ort nachzufragen. In der Regel würden die versuchen, das Mittel über sogenannte internationale Apotheken zu besorgen. Im Fall des RS-Impfstoffes gelten sogar erleichterte Bedingungen, das bedeutet: Das Präparat könnte z.B. auch über Frankreich und Spanien bezogen werden.
Importe aus anderen Ländern
Der heimische CDU-Europaabgeordnete und Arzt Dr. Peter Liese, der sich intensiv mit dem Thema befasst hat, erklärt das so: „Die Lage ist regional unterschiedlich, aber insgesamt so prekär, dass das Bundesministerium für Gesundheit am 16. September offiziell einen Versorgungsmangel erklärt hat. Das erlaubt den Bundesländern, im Einzelfall ein befristetes Abweichen von den Vorgaben des Arzneimittelgesetzes zu gestatten. So hat z.B. Bayern eine Allgemeinverfügung erlassen, die es den Apotheken ermöglicht, Arzneimittel einzuführen, die denselben Wirkstoff wie das Präparat beinhalten und in anderen Staaten verkehrsfähig sind. Der Hersteller Sanofi bemüht sich, Ware aus Frankreich, Spanien und den USA nach Deutschland zu importieren.“
Problem scheint auch zu sein: Es gibt offenbar momentan nur einen Hersteller. „Da muss nur in der Produktionskette des Arzneistoffes ein kleines Problem auftauchen und schon kommt die Firma mit der Herstellung nicht nach“, sagt Sandra Dietrich-Siebert.
Auch die Kinderärzte bemängeln, dass der Wirkstoff nicht immer sofort verfügbar ist und dass das Bundesgesundheitsministerium bei der Zulassung wertvolle Zeit verstreichen ließ: Dr. med. Silvia Rummel, Kinder- und Jugendärztin in Olsberg: „Die RSV-Prophylaxe wird seit Ende September von allen Krankenkassen übernommen und wird von der Ständigen Impfkommission (Stiko) empfohlen. Aus unserer Sicht ist es eine hervorragende Entscheidung, dass alle Kinder für den ersten Winter gegen RSV immunisiert werden sollen, da es die Kinder sehr gut schützt, weil es Krankenhausüberlastungen im Winter reduziert und letztendlich auch die ambulanten Kapazitäten schont.“
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Aus ihrer Erfahrung weiß Frau Dr. Rummel, dass schwer betroffene Säuglinge mit RSV bislang sehr oft stationär aufgenommen und teilweise beatmet werden mussten. „Alle weiteren haben einen mehr oder weniger schweren Verlauf, der auch uns als niedergelassene Kinderärzte stark belastet aufgrund der zahlreichen Vorstellungen und intensiven Betreuung. Umso mehr hat uns die Entscheidung der Stiko und des Bundesgesundheitsamtes gefreut und wir setzen die Immunisierung sehr zahlreich und zufrieden um.“
„Die Verfügbarkeit war wechselhaft, aber mit etwas zusätzlichem Aufwand und Telefonaten sicherlich innerhalb von ein bis zwei Wochen noch im Rahmen. Aktuell versuchen wir zu kommunizieren, dass die Eltern sich möglichst nach Geburt des Kindes bei uns in der Praxis melden, damit wir den Stoff bestellen.““
Allerdings auch nur dann, wenn der Impfstoff greifbar ist. Dr. Rummel: „Hinsichtlich der Verfügbarkeit wäre es von großem Vorteil gewesen, wenn die Entscheidungsfindung des Bundesgesundheitsamtes nicht von Juni bis September gedauert hätte. Der Bedarf war zudem zu Anfang im Oktober und November besonders erhöht, weil ja alle ab April geborenen Kinder noch ,nachgeimpft‘ werden mussten.“ Die Praxis habe sich bereits im Juli und August um das Impf-Präparat „Nirsevimab“ gekümmert - in der Hoffnung, dass die Kostenübernahme geregelt werde - und seitdem bereits 256 Kinder immunisiert. „Die Verfügbarkeit war wechselhaft, aber mit etwas zusätzlichem Aufwand und Telefonaten sicherlich innerhalb von ein bis zwei Wochen noch im Rahmen. Aktuell versuchen wir zu kommunizieren, dass die Eltern sich möglichst nach Geburt des Kindes bei uns in der Praxis melden, damit wir den Stoff bestellen - aktuell wird das Medikament noch personalisiert bestellt und geliefert – um ihn dadurch so früh wie möglich geben zu können, um eine Infektion vor der Gabe zu verhindern.“
„Aus medizinischer Sicht ist es nicht zu erwarten, dass die Kinderkliniken wieder so überlastet werden wie 2022/23. Aber trotzdem ist jedes Kind, das leidet, obwohl es einen wirksamen Schutz gibt, ein Kind zu viel.“
Medizinische Fachleute beklagen, die Politik habe das Thema verschlafen. Eigentlich hätten alle ab April geborenen Kinder schon gegen die gefährliche Atemwegsinfektion geimpft werden sollen. Auf die Empfehlung der Ständigen Impfkommission im Juni 2024 trat erst Mitte September die RSV-Prophylaxeverordnung des Bundesgesundheitsministeriums in kraft. Dr. Peter. Liese: „Die Situation ist alles in allem sehr viel besser als im Winter 2022/23, aber leider noch überhaupt nicht zufriedenstellend. Ich ärgere mich sehr darüber, dass das Bundesgesundheitsministerium seiner Verantwortung nicht nachgekommen ist und ein wirksamer Schutz von Säuglingen vor dem RS-Virus nicht für alle Säuglinge gleichermaßen möglich ist, da der Wirkstoff Nirsevimab, der von der Europäischen Arzneimittelagentur zugelassen ist und von der Stiko empfohlen ist, nicht in ausreichender Menge zur Verfügung steht. „Dass Minister Lauterbach auf seinen diesbezüglichen Brief bis heute nicht geantwortet habe, seit ärgerlich. Dr. Liese: Dass er seiner Verantwortung aber nicht nachgekommen ist, ist schlimm. Aus medizinischer Sicht ist es nicht zu erwarten, dass die Kinderkliniken wieder so überlastet werden wie 2022/23. Aber trotzdem ist jedes Kind, das leidet, obwohl es einen wirksamen Schutz gibt, ein Kind zu viel.“