Brilon. Vor wenigen Tagen sprach sich der SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese aus Brilon klar für Scholz als Kanzlerkandidat aus. Jetzt klingt das anders.
Es war einer dieser Mittagstische im Bundestag, die normalerweise Routine sind. Ein paar warme Worte, ein Gast, ein schnelles Foto für die Partei-Website. Doch am vergangenen Dienstag war alles anders. Im Saal lag eine Spannung, die greifbar schien, ein Vorbote für das, was da kommen sollte. Die Mitglieder des Seeheimer Kreises der SPD hatten sich versammelt, und hinter verschlossenen Türen wurde diskutiert – nein, gestritten – über die Frage, die in diesen Tagen die Sozialdemokraten umtreibt: Ist Olaf Scholz wirklich noch der Richtige, um die Partei in den kommenden Wahlkampf zu führen? Oder ist es an der Zeit, Boris Pistorius die Verantwortung zu übertragen?
Der Wechsel von Dirk Wiese
Der Druck, Olaf Scholz zur Seite zu drängen, ist auf einmal spürbar. Selbst Fraktionsvize Dirk Wiese aus Brilon, der letzte Woche noch im Gespräch mit der Westfalenpost bedingungslos Scholz unterstützte ( „Der Bundeskanzler ist gesetzt.“), signalisiert, dass die Diskussion über einen Wechsel zulässig sein muss. Gemeinsam mit Wiebke Esdar, Vorsitzende der Parlamentarischen Linken, betont der Politiker aus Brilon nun überraschend, dass die Entscheidung über die Kanzlerkandidatur nicht vorweggenommen sei: „Letztlich entscheiden die Parteigremien über die Frage der Kanzlerkandidatur, das ist auch der richtige Ort dafür.“ In einem gemeinsamen Statement räumten beide ein, dass die Debatte innerhalb der SPD längst begonnen habe. Und: „Wir hören viel Zuspruch für Boris Pistorius.“
Und so wird aus einem Mittagessen im Bundestag möglicherweise der Anfang einer Wende – nicht nur für die SPD, sondern für das Land.
Etwa fünfzig Abgeordnete haben sich versammelt, um über die aktuelle politische Lage zu sprechen. Zu Gast ist der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Jörg Dittrich, doch bevor er hereinkommt, besprechen sich die Seeheimer intern. Das Thema ist brisant: Soll Olaf Scholz Kanzlerkandidat bleiben, oder ist es an der Zeit, Boris Pistorius ins Rennen zu schicken? Denn der offene Widerstand in der SPD nimmt Fahrt auf. Joe Weingarten, ein Bundestagsabgeordneter aus Rheinland-Pfalz und Mitglied des konservativen Seeheimer Kreises, wagt es als Erster: „Es ist meine klare Meinung, dass wir mit Boris Pistorius in den Wahlkampf ziehen sollten“, sagt Weingarten in der „Süddeutschen Zeitung“. Sein Argument: Pistorius habe die Tatkraft, die nötige Nähe zu den Menschen und die Fähigkeit, in klarem Deutsch zu sagen, was zu tun ist.
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Einige der Anwesenden äußern laut einem Bericht im Spiegel große Zweifel daran, dass die SPD mit Scholz ein achtbares Ergebnis erzielen könnte. Einige fordern offen, lieber mit Pistorius in die Wahl zu ziehen. Joe Weingarten spricht Klartext: „Olaf Scholz ist bei den Menschen im Land unten durch“, sagt er. Das gelte bis tief in die SPD-Ortsvereine hinein und werde sich auch nicht mehr ändern. „Wir brauchen jetzt jemanden, der die Partei wieder zu den Leuten bringt – und das ist Pistorius.“ Auch Johannes Arlt, ein SPD-Bundestagsabgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern, schlägt ähnliche Töne an. Er plädiert für Pistorius und nennt ihn „einen hervorragenden SPD-Kanzlerkandidaten“, der die Partei mit einfachen, klaren Worten führen könne. „Es muss jetzt etwas passieren, das kann keine 14 Tage mehr dauern“, fordert Weingarten in Richtung Parteiführung.
Die sogenannte Wahlsieg-Konferenz der SPD am 30. November in Berlin, auf der Scholz eigentlich als Kanzlerkandidat gefeiert werden sollte, droht zum Wendepunkt zu werden. In der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ betont Boris Pistorius am Sonntag: „Wir haben einen Kanzlerkandidaten.“ Alles laufe auf Scholz hinaus. Doch Pistorius lässt auch Raum für Spekulationen: „Es gibt aber keinen Automatismus.“ Das müsse die Partei entscheiden, spätestens am 11. Januar beim Parteitag.
Dirk Wiese hat eine Schlüsselrolle in der SPD-Bundestagsfraktion
Wiese vertritt als stellvertretender Fraktionsvorsitzender eine Schlüsselrolle in der SPD-Bundestagsfraktion. Seine öffentlich geäußerte Offenheit für eine Diskussion über die Kanzlerkandidatur zeigt, dass die Frage innerhalb der Partei alles andere als entschieden ist. Der Druck auf Scholz steigt – nicht nur innerhalb der SPD, sondern auch durch Umfragen. Laut einer Erhebung des Instituts Insa sprechen sich 59 Prozent der SPD-Wähler für Pistorius als Kanzlerkandidaten aus. Scholz’ Beliebtheitswerte sind hingegen im Keller, während der Verteidigungsminister seit Monaten der beliebteste Bundespolitiker ist. Rückendeckung bekommt der noch amtierende Kanzler von Parteichef Lars Klingbeil, der im „Handelsblatt“ vor zu großen Hoffnungen auf einen Wechsel warnt: „Es ist ein Irrglaube zu meinen, man tauscht nur den einen gegen den anderen aus und schon ist alles rosig, blüht und gedeiht.“ Klingbeil macht klar, dass die Entscheidung letztlich auf einem Parteitag fallen müsse, und Pistorius selbst habe ja gesagt, dass er Scholz unterstütze. Dennoch hält sich das Gerücht um eine mögliche Kandidatur Pistorius’ hartnäckig. Pistorius hat mittlerweile offenbar auch Gefallen daran gefunden: „Man sollte nie irgendetwas ausschließen, weil die Welt sich so schnell weiterdreht“, sagte er am Montagabend bei einer Veranstaltung der Mediengruppe Bayern in Passau.
Partei-Urgestein Müntefering: Entscheidung gehört auf einen Parteitag
Am Sonntagabend meldete sich dann auch Franz Müntefering zu Wort, der frühere SPD-Chef aus dem Sauerland, mit mahnenden Worten: „Kanzlerkandidatur ist kein Spiel, das zwei oder mehr Kandidaten abends beim Bier oder beim Frühstück vereinbaren.“ Die Entscheidung gehöre auf einen Parteitag, und dort seien „selbstverständlich“ Gegenkandidaturen möglich. Ein klarer Fingerzeig an die Basis: Die SPD kann und soll entscheiden, wenn die Zeit reif ist. Scholz fliegt währenddessen nach Brasilien, im Gepäck die wachsenden Zweifel an seiner Person. Der geplante Besuch in Mexiko wird kurzfristig abgesagt. Zu angespannt ist die Lage in Berlin. Spätestens nach seiner Rückkehr aus Rio wird sich zeigen, ob Scholz weiterhin die volle Unterstützung seiner Partei genießt – oder ob Boris Pistorius seine Stunde kommen sieht. (mit dpa)