Brilon. Historiker Hans-Günther Bracht öffnet verborgene Akten: Wer beim Briloner Synagogenbrand dabei war und wer die Löschversuche verhinderte.
Papier ist geduldig. Aber Papier vergisst nicht, kann erzählen, kann Licht auf dunkle, braune Flecken der Geschichte werfen. Und es kann auch noch nach über 80 Jahren Details preisgeben, die wütend und traurig machen, die schockieren. In dem Zusammenhang darf auch die Frage gestellt werden, warum manches Papier so lange geschwiegen hat und manches sogar verschwunden ist. Der Historiker Dr. Hans-Günther Bracht ist bei Recherchen im Stadtarchiv Brilon eher zufällig auf alte Polizeiprotokolle in noch nicht erfassten Aktenordnern gestoßen. Aussagen der Stadt Brilon aus dem Jahr 1958 wie „Über den Hergang der Synagogen-Zerstörung ist hier nichts bekannt. Auch sind keine Personen bekannt, die sich daran beteiligt haben“, waren nach Auswertung dieser Protokolle seiner Ansicht nach nie haltbar und klingen nahezu zynisch. Und es waren demnach auch nicht – wie oft erzählt - brandschatzende SA-Männer, die von irgendwoher nach Brilon gekommen waren…
Durchsicht von rund 5000 Seiten
Der in Brilon lebende pensionierte Direktor des Rüthener Gymnasiums Dr. Hans-Günther Bracht beschäftigt sich schon seit seinem Studium mit der Zeit des Nationalsozialismus und der Verfolgung und Vernichtung der Juden. Daher forscht er immer wieder in Archiven. In Brilon ist er bei der Durchsicht von rund 5000 Seiten auf Unterlagen gestoßen, die belegen, dass über die Zeit des Novemberpogroms viel mehr bekannt bzw. aktenkundig ist als bisher angenommen. Dem damaligen Bürgermeister von 1945 muss die äußerst dünne Informationslage über die Pogromnacht suspekt vorgekommen sein: „Er hat damals einen Bericht über den Synagogenbrand angefordert“, so Bracht. Dafür habe die Polizei im Nachhinein Bürger bzw. Nachbarn befragt und deren Vernehmungen protokolliert. Auf diese Protokolle stützen sich viele neue Erkenntnisse.
SA-Versammlung unter Leitung des Bürgermeisters
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Demnach soll am Abend vor dem 9. November 1938 eine SA-Versammlung unter Leitung des Bürgermeisters stattgefunden und sich danach „das eigentliche Brandstiftungskommando zusammengefunden“ haben. Die Briloner Feuerwehr hat offenbar versucht, den Brand zu löschen. U.a. wurden aber die Löschschläuche zerschnitten. Der Bürgermeister soll auf die Beschwerde der Wehr gesagt haben: „Wissen sie denn nicht, was los ist, die Synagoge muss runter.“ Am 8. März 1946 wird sogar von der Revierdienstabteilung der Polizei förmlich festgestellt, wer an den Schandtaten beteiligt war.
„Mach Dein Fenster zu, sonst schmeiß ich dir einen Stein in die Fresse.“
Einen Teil der Protokolle und damit des Geschehens in jeder Novembernacht fasst Bracht so zusammen: „Ein Hilfspolizeibeamter sagte demnach u.a. aus, dass einer der Täter auf das Fenster einer Nachbarin zugelaufen sei und ihr zugerufen habe: ,Mach dein Fenster zu, sonst schmeiße ich dir einen Stein in die Fresse.‘ Der Feuerwehrmann Johann Henke gab darüber hinaus zu Protokoll: ,Mehrfach wurde das Wasser abgedreht. Ich habe dann den Täter Josef S. erwischt und ihm nach einem Wortwechsel eine runtergehauen. Als ich das dem Feuerwehrleiter Böddicker meldete, erklärte dieser, dass er bereits den R. beim Durchschneiden der Schläuche angetroffen habe. Eine Nachbarin gab an, dass sie ihren Mieter gesehen habe und nannte namentlich noch drei weitere Beteiligte. Darüber hinaus erinnerte sie sich an drei weitere Schaulustige als Zeugen.“ Andere sagten damals aus: „W. schrie mich an: Halt die Schnauze! Für Juden wird keine Feuerwehr gerufen…“ In einem anderen Zusammenhang soll sich ein Johannes G. besonders als aktiver Nazi hervorgetan haben. Ein Zeuge: „Kurz vor dem Zusammenbruch hatte ich eine Auseinandersetzung mit ihm, wobei er mit drohte, wegen meiner Anti-Nazi-Einstellung wäre ich Staatsfeind Nummer 1; der Sieg stände kurz vor der Tür, er würde mir dann den Hals abschneiden lassen…“
Schlimme Details aus einer schlimmen Zeit
Schlimme Details aus einer noch schlimmeren Zeit: Die in Brilon im Mai 1931 eingeweihte neue Synagoge lag an der Ecke Friedrichstraße/ Kreuziger Mauer/ Hubertusstraße. Immer wieder, so Bracht, sei es in der NS-Zeit zu mutwilligen Beschädigungen der Fenster gekommen, so dass diese 1938 mit einem Drahtgeflecht geschützt worden seien. In der Nacht zum 10. November 1938 - so die bisherigen Erkenntnisse - wurde die massive Eichentür der Synagoge mit Eisenwerkzeug aufgebrochen. Bracht in seinem Bericht: „Im kleinen Schulraum zertrümmerte man die Bänke, die zu den Stühlen im Betsaal getragen wurden. Dort wurde alles mit Benzin übergossen und angesteckt. Der Lärm hatte Anwohner geweckt; sie sahen circa 20 Männer – überwiegend SA, die sie aufforderten, die Fenster zu schließen und zu verschwinden. Die anrückende Feuerwehr durfte das Feuer, das inzwischen über die hölzerne Empore den Dachstuhl erreicht hatte, nicht löschen. Inzwischen waren viele Schaulustige eingetroffen, die das Ausbrennen der Synagoge beobachteten.“
Auch öffentlich wurden die schrecklichen Vorfälle bagatellisiert: Laut Bracht habe die Sauerländer Zeitung vom 11.11.1938 lapidar von einem Feuer in der Synagoge berichtet, das durch unbekannte Ursache ausgebrochen sei. Die alarmierte Briloner Wehr habe nicht mehr löschen können, da aufgrund des Brandumfangs nichts mehr zu retten gewesen sei. Erst drei Tage später habe es dann geheißen: „In den Wohnhäusern der Juden wurden die Fensterscheiben zertrümmert, die Synagoge in Brand gesteckt und manches andere mehr. Die männlichen Juden wurden dann bis auf wenige Ausnahmen in Schutzhaft genommen.“ Demgegenüber habe der Bürgermeister u.a. vermeldet: „Im Zuge der Aktionen ist kein Schaden entstanden…“
Ermittlungsansätze nicht weiter verfolgt
Dr. Hans-Günther Bracht ist im Nachhinein entsetzt darüber, dass viele Fakten unter den Teppich gekehrt und Ermittlungsansätze nicht weiter verfolgt worden seien. Er räumt ein, dass viele Aussagen in den Polizeiprotokollen erst sechs Jahre nach dem eigentlichen Geschehen und zum Teil noch später zusammengetragen wurden. „Sie waren in der Substanz aber aussagekräftig. Erstaunlich ist eher, dass mit einer Ausnahme keine Protokolle vorliegen, von der Befragung der namentlich Beschuldigten.“ Selbst der zusammenfassende Polizei-Bericht habe den unglaublichen Terminus „Judenrevolte“ für das Geschehen in jener November-Nacht genutzt. Bracht: „Über die konkreten einzelnen Handlungen und Abläufe bei der Schändung der Synagoge: wer hat was gemacht, gab der Bericht leider aber keinen Aufschluss. Vielleicht werden irgendwann noch mehr Protokolle bzw. dann auch Urteile gefunden, die die Beteiligung rechtskräftig klären.“ Immerhin habe der Stadtdirektor am 28.2.1948 an eine Spruchkammer geschrieben, dass mit der „Klärung des Synagogenbrandes“ ein Bruno K. beauftragt worden sei. In Brachts Augen nicht gerade einer der wichtigsten Mitarbeiter, da ohne Funktion und Titel. Zugleich ist für ihn damit belegt, dass noch nichts endgültig rechtlich geklärt war und eine Klärung auch immer unwahrscheinlicher wird.
Was ihn aber besonders ärgert: Warum schrieb man 1958 angesichts der vorliegenden Aussagen und Feststellungen, dass man nichts wisse über den Hergang der Zerstörung der Synagoge und über mögliche Täter? Insgesamt drängt sich ihm der Verdacht angesichts der Dokumentationslage auf, dass die Archivunterlagen nicht mehr vollständig sind, sie also später bereinigt wurden, um Täter zu schonen. Denn es sei in Brilon in der Nachkriegszeit durchaus nicht unüblich gewesen, dass Privatpersonen oder sogenannte Heimatforscher Aktenordner und Dokumente mit nach Hause nehmen konnten, wie Rückforderungen belegen.
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Eine Veröffentlichung der gesamten Recherchen und Forschungsergebnisse von Dr. Hans-Günther Bracht zu dem Thema würden an dieser Stelle den Rahmen sprengen, wenngleich sie interessant und lesenswert sind. Bracht ärgert sich darüber, dass dieses dunkelste Kapitel in der Geschichte auch in offiziellen, jüngeren Briloner Publikationen nur mit Aussagen wie „Verhaftungen und Ausbürgerungen von Menschen (…) gingen auch an Stadt und Kreis Brilon nicht vorbei“ sehr pauschal gehalten werden – zumal es offenbar jede Menge Material für mehr Details gibt – auf Papier, das langsam vergilbt...