Brilon. Sie ist chronisch krank, darf keine Corona-Impfung erhalten: Das Leben der Brilonerin Hildegard S. liegt auf Eis. Sie spricht über ihr Schicksal.
Hildegard S. tanzte immer gerne auf Konzerten, zusammen mit ihrem Mann. Manchmal fuhr sie nach zwei Stunden wieder heim. Dann ging es eben nicht mehr. Trotzdem: „Ich war da.“ Seit Pandemiebeginn hat es für Hildegard S. keine Live-Musik mehr gegeben. Wann sie das nächste mal wieder auf ein Konzert gehen kann? Sie weiß es nicht. Die Brilonerin kämpft mit einer schweren Behinderung und mehreren Erkrankungen. Das Herz, die Knochen, Zöliakie, Multi-Allergien. Hildegard S. darf die Corona-Impfung deswegen nicht erhalten. Seit Pandemie-Beginn schottet sie sich ab. Dass die Maßnahmen, wie die Maskenpflicht, jetzt fallen, ist für sie gefährlich.
Sie legt alles auf Eis – Hobbys, Untersuchungen, Familienbesuche
„Am Anfang hat sich Corona so surreal angefühlt“, sagt Hildegard S., wenn sie sich an den März 2020 erinnert. Sie hofft damals wie alle, dass das Virus nicht nach Deutschland kommt. Dass es nicht so schlimm ist. Dann die Bilder aus Italien, Bergamo. Das Virus, so viel ist klar, kann lebensbedrohlich für Hildegard S. werden. Sie schottet sich ab. „Ich bin nicht mal mehr zum Arzt gegangen, obwohl ich regelmäßige Untersuchungen machen lassen muss.“ Ergotherapie und psychosomatische Behandlungen liegen auf Eis. Nur notwendige Untersuchungen beim Kardiologen oder den regelmäßigen Check der Blutwerte traut sie sich noch. Hildegard S. wohnt ländlich bei Brilon, spaziert viel draußen in der Natur. Ihre Kinder, die alle erwachsen sind und nicht mehr daheim leben, spricht sie via Zoom. Die Stadt meidet sie, auch als der Lockdown endet. Kein Stöbern in Boutiquen, kein Einkauf im Supermarkt, kein Bummeln über den Flohmarkt. Das erledigt ihr Mann. „Ich mache das heute noch nicht und vermisse es sehr. Schlicht die Ablenkung.“
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Sie freute sich auf den Impfstoff – ihr Hausarzt riet ihr abzuwarten
Irgendwann die gute Nachricht: Der Impfstoff ist da. „Ich freute mich sehr auf die Impfung“, sagt Hildegard S. Sie ist gelernte Arzthelferin, versteht viel von dem Thema und liest sich ein. Sie beschließt, noch zu warten denn viele Zusatzstoffe in dem Impfstoff kennt sie, verträgt sie aber nicht. Währenddessen lassen sich ihr Mann, ihre Kinder und ihre Freunde impfen. Einmal, zweimal und später dann auch zum dritten Mal. Jeder verträgt die Impfung gut. „Mein Hausarzt meint, ich muss abwarten.“ Also bleibt Hildegard S. Zuhause, als alle schon neue Freiheiten genießen. Ihr Mann ist sehr vorsichtig. Verzichtet auf Treffen mit seinem Kegelclub. Übernimmt alle Einkäufe und Erledigungen. „Er ist verständnisvoll“, sagt sie. Ihre Freunde auch. Sie treffen sich virtuell, im Sommer bei einem Spaziergang. Draußen trägt Hildegard S. Maske. Wenn sie heute ihre Kinder trifft, tragen alle Masken. Kurze Umarmungen bei geöffnetem Fenster. Weihnachten und Silvester feiert die Familie wegen des Virus nicht zusammen.
„Ich will mich nicht immer rechtfertigen müssen, mich abstempeln lassen“
„Das perfide ist, dass wir Ungeimpften stets die Buhmänner sind. Dabei können sich viele einfach nicht impfen lassen. Die Ungeimpften verzichten also, schränken sich ein, während die Geimpften keine Angst mehr haben und vergessen, wie ansteckend sie trotz eines negativen Tests noch sein können“, sagt die Brilonerin. Den Querdenkern ist sie nicht böse, auch wenn sie für eine Pauschalisierung der Ungeimpften verantwortlich sind. „Jeder hat eine eigene Überzeugung und Querdenker haben das Recht, Angst vor der Impfung zu haben. Es ist aber schade, wie viele Menschen ihre Augen vor der Realität verschließen. Ich wurde oft schon als Querdenkerin abgestempelt, aber das stimmt nicht.“ Hildegard S. wird nicht offen Querdenkerin genannt, sie hört es manchmal in den Zwischentönen. „Bei Ärzten, die mich nicht kennen, heißt es immer: warum sind sie nicht geimpft? Sie kommen hier nicht rein. Manchmal hilft nicht mal ein negativer Test, ich darf die Praxis nicht betreten.“ Bis heute hat sie kein ärztliches Zertifikat erhalten, das bestätigt, dass sie die Impfung nicht verträgt. „Die Ärzte sagen mir, dass sie das nicht ausstellen können, weil sie sonst Ärger mit der Ärztekammer bekommen.“ Für 14,95 Euro kann sie so ein Zertifikat im Netz herunterladen. „Ich will es aber ehrlich bekommen. Ich will mich nicht immer rechtfertigen müssen, mich nicht abstempeln lassen. Ich will, dass akzeptiert wird, dass ich mich nicht impfen lassen kann.“
Ihr Mann trägt weiter die Maske, die Menschen schauen komisch
Hildegard S. kann nicht verstehen, wieso die Corona-Maßnahmen fallen. „Ich weiß, dass die Politiker ihr bestes tun. Für alle ist diese Situation neu. Aber warum werden PCR-Tests abgeschafft? Wieso die Maskenpflicht?“ Ihr Mann trägt weiter Maske, beim Bäcker wird er angeschaut. Jemand fragt ihn. Sagt, dass die Maskenpflicht doch jetzt vorbei ist. Er antwortet: „Ich habe eine kranke Frau Zuhause.“ Sie wünscht sich, dass die Maskenpflicht bleibt. „Die Maske schränkt uns nicht ein. Ich kann damit atmen, mich unterhalten. Damit würde ein Schutz für alle aufrecht erhalten.“ Sie sagt auch: „Ich verstehe natürlich die Forderungen nach Freiheit. Niemand versteht das besser als ich.“
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„Für mich geht die Abschottung weiter“
Hildegard S. weiß nicht, wann ihre Isolation endet. „Gängige Mittel darf ich nicht haben. Ich hatte Hoffnung auf Novavax, aber auch dieser Impfstoff beruht zum Teil ja auf der mrNA-Methode. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut, dann ist er es doch nicht“, sagt sie. Sie klingt gefasst, stark. „Für mich geht die Abschottung weiter.“ Kein Flohmarkt. Kein Konzert. Kein Bummeln. Umarmungen mit Maske. „Ich fühl mich wie im Gefängnis.“ Hildegard S. macht eine Pause, dann sagt sie, wieder gefasst: „Aber bisher hatte ich schon eine wirklich erfüllte Zeit in meinem Leben. Und andere, die leiden viel mehr als ich.“