Berlin. Wohl jede und jeder trägt bisexuelle Anteile in sich. Was bedeutet das für die Treue? Ein Paartherapeut räumt mit alten Mythen auf.
Ob Ehe oder unverheiratet – Beziehungen bedeuten immer Arbeit und gemeinsam Kompromisse zu finden, damit ein harmonisches Miteinander möglich ist. Doch das gelingt nicht immer. Schätzungen zufolge gehen etwa 50 Prozent der Menschen fremd, weiß Psychologe, Paartherapeut und Buchautor Wolfgang Krüger. Die statistischen Werte lägen mit rund einem Drittel meist niedriger, „da nicht alle einen Betrug offen zugeben“.
Umso komplexer scheint die Situation zu werden, wenn ein oder gar beide Partner in der Beziehungbisexuell sind. Als bisexuell gelten Personen, die sich emotional und/oder sexuell zu Personen jeglichen Geschlechts hingezogen fühlen. Sprich: Eine bisexuelle Person kann sich sowohl zu Personen des eigenen Geschlechts als auch zu Personen des anderen Geschlechts hingezogen fühlen.
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Und das ist keine Seltenheit, erklärt Krüger. „Heute wissen wir, dass sich jeder Mensch zu beiden Geschlechtern hingezogen fühlen kann.“ Meist sei jedoch der hetero- oder der homosexuelle Anteil dominanter. Auffällig laut Krüger: „Es besteht das allgemeine Vorurteil, dass Fremdgehen bei bisexuellen Partnerinnen oder Partnern häufiger ist, da diese so auch ihre andere sexuelle Seite ausleben wollen.“
Bisexualität in der Ehe: Gründe für Fremdgehen sind komplex
Aber gehen bisexuelle Menschen wirklich häufiger fremd? Tatsächlich gibt es keinen wissenschaftlich erwiesenen Zusammenhang zwischen Bisexualität und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zu betrügen. Das Klischee, dass bisexuelle Menschen häufiger untreu seien, basiere auf Vorurteilen und Stereotypen, nicht auf Fakten, betont Paartherapeut Krüger. Die sexuelle Orientierung einer Person bestimme nicht ihr Verhalten in einer Beziehung.
Fremdgehen hängt laut dem Experten von verschiedenen Faktoren ab. Dazu zählen:
- individuelle Werte
- die Qualität der Beziehung
- die Kommunikationsebene der Paare
- Prägungen und Erfahrungen in der Kindheit
- persönliche Entscheidungen
Dennoch kann Bisexualität in monogamen Partnerschaften oder einer Ehe zu besonderen Herausforderungen führen. „Muss ein Partner eine Seite an sich dauerhaft unterdrücken, kann das sehr unglücklich machen“, sagt Paartherapeut Krüger. Jedoch wäre es falsch zu glauben, dass diese Seite nur mit einem anderen Menschen ausgelebt werden könne. „Das Thema der erotischen Anteile, die wir in uns tragen, scheint für viele immer noch ausgesprochen schwierig und irritierend zu sein“, erklärt er. „Das Beste wäre, dass jeder von uns in der Lage wäre, die unterschiedlichsten Anteile und Rollen in seine Ehe oder Partnerschaft einzubringen.“ Laut Krüger sollten Männer wie Frauen in der Lage sein, „sowohl das, was früher als in Anführungszeichen ‚männliche Anteile‘ bezeichnet wurde, auszuleben als auch ‚weibliche Anteile‘.“
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Rollenbilder in Ehe und Beziehungen aufbrechen
Paare, so Krügers Rat, sollten mit Rollenmustern spielen und so die Vielfalt des erotischen Lebens in die Ehe integrieren und beispielsweise für Abwechslung bei folgenden Fragen sorgen – bezogen auf das Sexualleben, aber auch auf das generelle Zusammenleben:
- Wer beginnt mit dem Sex?
- Wer redet über Sex?
- Wer gibt während des Geschlechtsverkehrs den Ablauf vor?
- Wer ist eher aktiv, wer passiv?
- Wer ergreift generell die Initiative?
- Wer übernimmt im Alltag welche Aufgaben?
- Wer gibt den Ton an, wer nimmt sich zurück?
Ziel laut Krüger wäre es, „die großen Rollen“ würden „immer wieder wechseln“, sodass es ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ letztendlich ja gar nicht mehr gibt, sondern schlicht unterschiedliche Verhaltensweisen, die man nicht mehr eindeutig zuordnen kann“. Wer in der eigenen Ehe Vielfalt erlebe, dem sollte es, so Krügers Einschätzung, gar nicht mehr wichtig sein, fremdzugehen, weil er oder sie – auch mit der Erotik – bereits relativ zufrieden sei.
„Ich erlebe in den letzten Jahren jedoch, dass alte Rollenmuster auf eine irritierende Weise wieder viel stärker werden“, gibt der Psychologe zu bedenken. „Das finde ich furchtbar, weil es dazu führt, dass Ehen einseitiger werden.“ Genau das erhöhe die Verlockung und den Drang fremdzugehen, um einen unterdrückten Anteil ausleben.
Treue und Betrug: Zuverlässigkeit in Beziehungen macht glücklich
Wichtig ist laut Krüger in solchen Fällen, den Begriff der Treue für sich als Paar noch mal genau zu definieren und zu prüfen, ob für beide Seite etwa auch eine offene Beziehungsform denkbar ist. Er selbst ist hier eher skeptisch: In Ehen und langfristigen Beziehungen gehe es immer um Verlässlichkeit. „Das gilt eigentlich für alle Bereiche des Lebens“, so Krüger. „Wenn ich mich zentral für irgendwelche Dinge oder eben einen Menschen entscheide, ist damit im Grunde klar, dass ich auf andere Dinge verzichte.“
Die Diskussion, ob bisexuelle Menschen überhaupt monogam leben könnten, kann der Paartherapeut daher nicht nachvollziehen. Zentral für jede Partnerschaft sei Vertrauen und eine gewisse Exklusivität. „Die Partner wollen für den anderen der Mittelpunkt des Lebens sein“, sagt Krüger. „Und die größte Gefährdung dieser Position ist tatsächlich die Erotik mit anderen.“
Für den Experten bedeuten zuverlässige Bindungen im Leben das größte Glück. Daher erfordere es manchmal intelligente Lösungen, um Neigungen auszuleben, ohne die Bindung zu gefährden. Jeder solle sich die Frage stellen: „Will ich ein Leben führen, mit allen Möglichkeiten, in dem ich mich nie festlege oder entscheide? Ein Leben, wo ich alles ausleben kann? Oder will ich ein Leben, in dem ich mit einem anderen Menschen eine große Zuverlässigkeit erlebe – unabhängig von der sexuellen Orientierung?“
Zur Person
Dr. Wolfgang Krüger (75) ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Berlin. Beziehungsprobleme sind ein Schwerpunkt seiner Arbeit. Zudem veröffentlichte Krüger diverse psychologische Sachbücher – unter anderem zu den Themen Liebe, Partnerschaft und Sexualität.