Essen. Wer sich um die Versorgung seiner pflegebedürftigen Familienmitglieder kümmert, macht einen echten Knochenjob.
Die meisten Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Einschränkungen werden von ihrer Familie oder auch von Freunden gepflegt. Oft Jahre oder Jahrzehnte lang. Es gibt 85-jährige Männer, die sich um ihre bettlägerige, demenzkranke Frau rund um die Uhr kümmern. Es gibt in Vollzeit berufstätige Menschen, die ihr Kind oder ihre alten Eltern versorgen. Es gibt erwachsene Kinder, die jedes Wochenende von ihrem Arbeitsort aus durch halb Deutschland reisen, um sich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen zu kümmern.
In Deutschland sind mehr als fünf Millionen Menschen pflegebedürftig, weit mehr als vier Millionen werden zu Hause durch Angehörige versorgt, teilweise mit Unterstützung durch ambulante Pflegedienste. Geht man davon aus, dass durchschnittlich ein bis zwei Angehörige einen pflegebedürftigen Menschen versorgen, dann sind das sechs bis acht Millionen Pflegepersonen. Über 60 Prozent der pflegenden Angehörigen sind Frauen. Pflegende Angehörige entlasten das Gesundheitssystem erheblich und kompensieren, ob sie wollen oder nicht, den Pflegenotstand. Pflegende Angehörige sind Familienmitglieder, Partner, Nachbarn und Freunde, die eine nahestehende pflegebedürftige Person zumeist zu Hause unentgeltlich betreuen. Etwa 84 Prozent aller Pflege in Deutschland wird unbezahlt von Angehörigen und Freunden geleistet. Meistens im eigenen Zuhause der alten, kranken oder behinderten Person.
Zuwendung bedeutet auch sehr viel Organisation
Pflegen, das heißt nicht nur beim Waschen oder Anziehen helfen, so wie sich das viele vorstellen. Es kann auch heißen: den Umzug von Vater oder Mutter ins betreute Wohnen oder Seniorenheim organisieren. Termine mit Ärzten, Therapeutinnen, Krankenhäusern koordinieren. Einkaufen, putzen, chauffieren, auf der Treppe in den dritten Stock helfen oder auch nur zwei Stufen rauf zu einem Geschäft. Es kann bedeuten, täglich geduldige Gesprächspartnerin zu sein (die zum Beispiel Monate braucht, bis der Rollator endlich als notwendig und hilfreich akzeptiert wird) oder Laien-Berater für Medikamente mit komplizierten Beipackzetteln. Es kann darin bestehen, zum Tragen von Kompressionsstrümpfen zu überreden oder diese täglich an- und ausziehen. Da wären wahlweise auch noch: Essen kochen und anreichen. Verschlüsse öffnen. Etwas reparieren. Die Blumen gießen. Bücher aus der Bibliothek besorgen. Oder auch: Bei einer plötzlichen Erkrankung eines alten Angehörigen in dessen Urlaubsort eilen und ihn möglicherweise ins Krankenhaus bringen. Bei einem Sturz oder Herzbeschwerden den Notarzt rufen.
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Diese Aufzählung könnte fast endlos so weiter gehen. Intime Details wie Windeln wechseln oder bei der Darmentleerung helfen, wenn die Verdauung nicht mehr funktioniert, lassen wir hier mal weg. Auch so etwas leisten viele Angehörige, und sie tun das gerne, brechen aber möglicherweise selbst irgendwann zusammen.
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Angehörige brauchen viel, viel mehr Unterstützung
Angehörige sind nicht nur der stets parat stehende, im Wesentlichen kostenfreie Pflegedienst für betagte Familienmitglieder. Familien versorgen oftmals von Geburt an behinderte oder später chronisch erkrankte Kinder. Tags, nachts, am Wochenende, im Urlaub – falls es den gibt. Heranwachsende, die selbst Fürsorge brauchen, pflegen Elternteile, die alkohol- oder drogenkrank sind. Aber bevor Sie dieser Text verzweifeln lässt: Jemanden Nahestehendes zu pflegen kann sehr erfüllend sein. Welche Aufgabe wäre wohl sinnvoller? Jedoch: Pflegende Angehörige brauchen viel, viel, mehr Unterstützung. Vor allem die Frauen zerreißen sich förmlich zwischen Pflege, oftmals Kindern, Beruf und Haushalt. Freie Zeit für sich selbst ist Fehlanzeige für viele Millionen Menschen.
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Wie für die Tochter Anfang 60, die ihre hochgradig verwirrte alte Mutter versorgt und dafür nachts mehrmals aufsteht. Oder der Herr Mitte 80, der seit Jahren seine gelähmte, bettlägerige Frau pflegt. Ein ambulanter Pflegedienst unterstützt beide, aber den größten Teil des Tages und der Nacht sind die Tochter und der Ehemann allein verantwortlich – als ungelernte Hilfspflege.
Ambulante Pflegedienste halten das System selbstverständlich mit am Laufen. An der stets steigenden Anzahl kleiner Autos mit Aufkleber „Die Pflegeengel“, „Pflege in der Nachbarschaft“ oder „Gute Pflege – immer für Sie da“, die durch die Gegend flitzen, sieht man den ständig steigenden Bedarf. Aber diese Pflegedienste sind ihrerseits überlastet: Immer mehr Patienten und Angehörige fragen bei ihnen an, und oft brauchen sie diese Unterstützung von heute auf morgen – etwa nach einem Krankenhausaufenthalt, wenn von nun an Pflegebedarf besteht. Dazu kommt, dass jede kleine Pflegeleistung nach Minuten abgerechnet wird und dokumentiert werden muss. Ohne diese zeitintensive Bürokratie gibt es für ambulante Dienste kein Geld von den Krankenkassen. Drastischer Mangel an gut ausgebildeten Pflegefachkräften, ob ambulant oder stationär, ist ein großes Problem.
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Der Pflegeheim Rating Report 2024 ergab, dass in der ambulanten und stationären Pflege im Jahr 2021 insgesamt rund 1,26 Millionen Vollkräfte beschäftigt waren, davon 341.000 Pflegefachkräfte. Zwar seien bis 2021 etwa 427.000 zusätzliche Vollzeitkräfte hinzugekommen, aber diese können die Lücken nicht füllen: Bis 2040 rechnen die Experten mit 163.000 bis 380.000 zusätzlichen Vollzeitkräften in der stationären und 97.000 bis 183.000 in der ambulanten Pflege. (Quelle: Pflegeheim Rating Report 2024, erstellt vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen und Institute for Healthcare Business GmbH auf einer Datengrundlage von 2014 bis 2021, https://www.rwi-essen.de).
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Die Alterung der Gesellschaft ist der wesentliche Grund für das Wachstum des Pflegemarkts, so der Report. Bei „konstanten Pflegequoten“ werde es voraussichtlich bis 2030 in Deutschland 5,7 Millionen Pflegebedürftige geben, bis 2040 sogar 6,4 Millionen. Daraus entstünde ein zusätzlicher Bedarf von 322.000 stationären Pflegeplätzen bis 2040. Die pflegenden Angehörigen werden es folglich immer schwerer haben, denn der „Markt“ hat viel zu wenige Arbeitskräfte und stationäre Pflegeplätze. Nicht zu vergessen ist auch, dass pflegende Familienmitglieder selbst zumeist keine jungen Hüpfer mehr sind, sondern etwa als Kinder von Greisen auch schon im Rentenalter.
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Ausgebeutete ausländische Seniorenbetreuerinnen
„Seit 15 Jahre arbeite ich als Privat Pflegerin. Habe ich gute Deutsch, Gewerbe, ich bin nicht raucher , eine ruhige gute hausfrau und Pflegerin aus Ungarn (Sopron) würde gerne Ihnen helfen. Ich suhe eine neue Patient ode Patientin. Turnus 14 Tage, Geimft.“ So lautet ein Online-Stellengesuch. Ein anderes: „Ich bin 24.St.Betreuerin Senioren. Ich bin Tschechien Frau, Břeclav. 11 Jahre Erfahrung. Keine Agentur. Lange Schicht nicht problem. 67 Euro /Tag.“ Diese Anzeigen vermitteln einen Eindruck von der aktuellen Situation. Ohne Hilfskräfte aus dem Ausland stünde die Pflege hierzulande wohl vor dem Kollaps.
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Rund um die Uhr in einer fremden Umgebung einen fremden Menschen zu pflegen, für einen Stundenlohn von 3,58 Euro – kein Problem? Gesellschaft und Politik nehmen das einfach so hin. Für die Pflegekräfte aus dem Ausland ist dieser armselige Lohn offenbar lohnend. Viele Familien sind auf diese Seniorenbetreuerinnen dringend angewiesen, weil die ambulanten Pflegedienste mit fachlich qualifiziertem Personal überlastet sind. Oft reicht es auch nicht aus, wenn der Pflegedienst ein- bis dreimal am Tag kommt. Aber die im Haushalt wohnenden unterbezahlten Hilfskräfte sind stets zu Diensten. Von ihrer eigenen Familie getrennt, fehlen sie in ihrem Land als Arbeitskräfte.
„Sofortmaßnahmen gegen den Pflegenotstand“, nämlich mehr Einkommen und bessere Arbeitsbedingungen, verlangte die Gewerkschaft ÖTV (heute Verdi) bereits 1988. Das ist 36 Jahre her. Der frühere bayerische Staatsminister für Gesundheit Klaus Holetschek warnte längst vor einer „humanitären Katastrophe“. Pflegewissenschaftler Heinz Rothgang fordert wie so viele, der Pflegeberuf müsse „deutlich attraktiver werden“. Denn in allen EU-Ländern gibt es zu wenig Pflegekräfte. Der Anteil der ambulanten Pflege wird jedoch weiter ansteigen. Die jährlichen Kosten für Pflege in Deutschland werden voraussichtlich auf 59 Milliarden Euro im Jahr 2030 steigen.
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Das Institut Arbeit und Technik (IAT/Westfälische Hochschule) in Gelsenkirchen befasste sich mit der Frage, wie Unternehmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstützen, die neben ihrem Beruf Angehörige pflegen. Ergebnis der Studie: Es gibt drei Typen von Arbeitgebern: „informierte Allrounder“, „solide Kümmerer“ und „unspezifische Soforthelfer“. Die Allrounder kümmern sich um das Thema Vereinbarkeit, es ist ihnen wichtig. Sie führen Maßnahmen ein, die Pflege- und Sorgetätigkeiten der eigenen Mitarbeitenden berücksichtigen und gehen dabei über gesetzliche Vorgaben und „individuell ausgerichtete Flexibilisierungsmaßnahmen“ hinaus.
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Umdenken in Zeiten des Fachkräftemangels
Die Kümmerer möchten zwar pflegende Mitarbeitende unterstützen, allerdings seien die Aktivitäten und Unterstützungsinstrumente, die über die gesetzlichen Vorgaben hinaus gehen, nicht spezifisch auf die Bedürfnisse von pflegenden An- und Zugehörigen ausgerichtet. „Im Fokus stehen vor allem flexible Arbeitszeit- und Arbeitsortgestaltung sowie Informationsangebote.“
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Den Soforthelfern ist die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege bislang eher unwichtig, lautet ein weiteres Ergebnis. Bei individuellen Bedarfsfällen machen sie „Flexibilisierungsangebote“, ansonsten gibt es nur wenige pflegespezifische Unterstützungsmaßnahmen. (Informationen: http://www.iat.eu) Fazit: Die Unternehmen müssen gerade in Zeiten stark steigenden Fachkräftemangels viel mehr für ihre Angestellten tun. Pflegen kann man nicht nebenbei, jedenfalls nicht auf Dauer. Und Pflegesituationen können quasi aus dem Nichts jederzeit entstehen.
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