Ruhrgebiet. Messies plagen sich mit Vorurteilen und Vermietern. Betroffene berichten, wie sie eine Selbsthilfegruppe bei einem geordnete Leben unterstützt.

Wenn der Arzt nicht festgestellt hätte, dass Rosis ganzer Bauch voller Metastasen ist. Und wenn sie nicht ins Krankenhaus gekommen wäre. Und wenn sie dann nicht zwei Wochen später gestorben wäre – ihre Freunde und wenigen Angehörigen hätten wohl auch in den nächsten Jahren nicht mitbekommen, wie es hinter der schmucken Fassade ihres Eigenheims aussah. Doch nun standen sie in Rosis Haus in einer ruhigen Seitenstraße am Rande des Ruhrgebiets, und sie konnten nicht fassen, wie die 51-Jährige gehaust hat.

Einer der Anwesenden, ein kerniger Bauunternehmer, der in seinem Leben schon viel gesehen hatte, hielt den Gestank nicht aus, er rannte hinaus und erbrach sich in den Vorgarten. In Rosis Haus herrschte Chaos, vom Keller bis unters Dach: Müllberge, Schmutz, Krabbeltiere. Und über allem die Erkenntnis: Die Rosi, die sich vielleicht nicht täglich die Haare wusch, aber doch mit beiden Beinen im Leben stand, war ein Messie. Und keiner in ihrem Umfeld hatte es gemerkt.

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Sieben Messie-Geplagte an einem Tisch

Nur nichts wegwerfen: Blick in eine Messie-Wohnung.
Nur nichts wegwerfen: Blick in eine Messie-Wohnung. © picture alliance / blickwinkel/M | pa Picture-Alliance / McPHOTOs

Schätzungen zufolge leben in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen mit dem Messie-Syndrom. Sie horten Gegenstände, können sich nicht von ihnen trennen, und in der Folge fällt es ihnen schwer, Ordnung zu halten. Rosis Fall, in dem das ganze Haus einer Mülldeponie glich, ist gewiss extrem. Doch auch, wer mit einer gering ausgeprägten Messie-Veranlagung lebt, kann dies als Belastung empfinden.

Zwei Mal im Monat treffen sich Betroffene in einer Selbsthilfegruppe im Ruhrgebiet. Wenn alle kommen, sitzen sieben Menschen am Tisch. Heute sind es fünf Teilnehmer. Und sie haben lange überlegt, ob sie sich einem Journalisten gegenüber öffnen möchten. Zu groß ist ihre Sorge, dass einer ihrer Vermieter später den Artikel liest und realisiert, wen er sich da ins Haus geholt hat. Aus diesem Grund sind ihre Namen in diesem Text geändert.

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Erwin ist die gute Seele der Gruppe. Wer den Kontakt sucht, landet zunächst bei ihm. Früher hatte der 66-Jährige in der Nachtschicht bei einem Versanddienstleister dafür gesorgt, dass Waren pünktlich von A nach B kommen. Wenn er im Morgengrauen nach Hause kam, kippte er erstmal ein paar Drinks, um schlafen zu können. Das war sein Leben. Arbeit, Alkohol, Schlafen.

Da Erwin aber auch schon immer ein „Jäger und Sammler“ war, wuchs seine Wohnung immer weiter zu. Er schleppte ständig neue Bücher ran, alte Zeitungen schmiss er nicht ins Altpapier, auf dem Boden stapelten sich CDs und DVDs – es wurde immer voller in seinen vier Wänden. „Ich wollte ja aufräumen“, sagt er. „Aber ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte. Deswegen hab‘ ich es immer wieder aufgeschoben.“

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Irgendwann, sagt Erwin, falle aber jedem Messie auf, dass diese Lebensbedingungen eigentlich „lebenszerstörend“ seien. Wenn es in der Wohnung zu voll geworden ist, rumpelt der Messie halt seinen Keller zu. Wenn auch dieser aus allen Nähten platzt, nutzt er den Hausflur. Und dann sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Nachbarn beschweren und der Vermieter mit der Kündigung droht. „Da sitzen Sie schnell auf der Straße, wenn Sie nicht aufpassen.“

Erwin hatte zu Hochzeiten seines Messie-Lebens nur noch auf der Couch in seinem Wohnzimmer geschlafen, weil er das Schlafzimmer überhaupt nicht mehr erreichen konnte. Spätestens da war ihm klar, dass er etwas ändern musste. „Man wird ja erst aktiv, wenn die Hütte brennt“, sagt er. Er ließ die Finger vom Alkohol, machte eine Entgiftung.

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Messie Erwin hat Strategien entwickelt

Dann wollte er seine Bude in den Griff kriegen – und nahm Kontakt auf mit einer Selbsthilfegruppe für Messies in einer Nachbarstadt, damit er bloß nicht auf Bekannte trifft. „Wenn man mit anderen Messies zusammen ist, kann man ganz offen reden. Man braucht sich den anderen gegenüber ja nicht zu schämen, und man muss sich nicht erklären“, sagt er.

Inzwischen hat Erwin eine Reihe von Strategien entwickelt, um Ordnung in seiner Wohnung zu halten. So hat er einen Schreiner beauftragt, deckenhohe Schrankwände einzubauen, um Stauraum für seine vielen Sammelobjekte zu bekommen. Im Flur hängen nun Regale, die klar beschriftet sind, damit jeder Gegenstand einen festen Platz hat. „Das Messie-Problem hat nichts mit mangelnder Organisationsfähigkeit zu tun. Es ist vielmehr die Schwierigkeit, den eigenen Haushalt zu organisieren“, sagt er.

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Manfred (68) nickt zustimmend. Im Job hat er früher Großbaustellen gemanagt, auf denen 100 Leute arbeiteten, und in der Freizeit sorgte er ehrenamtlich dafür, dass in seinem Sportverein alles rund läuft. „Das Strukturieren war für mich nie ein Problem“, sagt er. „Mein Problem ist das Nicht-Loslassen-Können.“ Er halte an Dingen fest, weil sie für ihn mit vielen Erinnerungen aus der Vergangenheit aufgeladen sind. Würde er etwas wegwerfen, wäre es unwiderruflich verloren. „Dabei entsteht ein Leidensdruck, so stark, dass du nicht mehr schlafen kannst. Du drehst dich im Kreis und kommst da nicht mehr raus.“

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Der erste Schritt aus dem Messie-Leben ist der schwierigste

Dann möchte Manfred noch ein Vorurteil aus der Welt räumen: „Oft heißt es ja, Messies seien nicht gesellschaftsfähig. Aber das stimmt nicht. Wir sind gerne unter Menschen. Und wir würden sie auch gerne zu uns nach Hause einladen, aber das geht halt nicht.“

„Um zu einer Selbsthilfegruppe zu gehen, bedarf es Mut. Der erste Schritt ist der schwierigste“, sagt Sebastian Flecken. Der 46 Jahre alte Experte für Selbsthilfegruppen arbeitet bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle im Kreis Recklinghausen. Zu seinem Job gehört es, Gruppen bei ihrer Gründung zu unterstützen, sie zu begleiten und Interessenten in passende Selbsthilfe-Angebote zu vermitteln. Er erzählt von Menschen, die monatelang den Flyer einer Selbsthilfegruppe mit sich herumtragen, bevor sie tatsächlich den Mut aufbringen, dort an die Tür zu klopfen. „Dabei ist es wichtig, solche Angebote in Anspruch zu nehmen“, sagt Flecken, „der Mensch ist ein soziales Wesen. Reine Informationen gibt es zwar im Internet, aber den Austausch auf Augenhöhe gibt es nur in der Gruppe.“

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Erwin hat in seiner Selbsthilfegruppe sogar seine jetzige Lebensgefährtin kennengelernt. Susanne (70) hatte 37 Jahre lang als Sachbearbeiterin bei einer Behörde gearbeitet, hat dort Fälle verwaltet und Akten gepflegt. Im Beruf war sie erfolgreich. Dass sie ein Messie ist, hat ihr Umfeld nicht bemerkt.

Keiner wusste, dass 80 Prozent der Fläche ihrer 58-Quadratmeter-Parterrewohnung nicht mehr begehbar waren, und dass sie mit viel Kreativität schmale Laufwege angelegt hatte, um überhaupt von der Haustür zu Küche, Bad und Bett zu gelangen. „Ich stapel aber nur bis Fensterbank-Höhe, damit man von außen nichts sieht“, sagt Susanne, „außerdem sind meine Rollläden meist unten, und ich lasse keinen in meine Wohnung rein. Schlimm wäre es, wenn sich der Hausverwalter oder Handwerker ankündigen würden.“

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Susanne hatte Jahre benötigt, bis sie sich eingestehen konnte, dass sie ein Messie ist. Obwohl sie sich meist bei Erwin aufhält, behält sie ihre Wohnung. Ihren Mietvertrag zu kündigen, ist für sie keine Option: „Wo sollten denn meine ganzen Sachen hin?“ Ein paar Mal hatte sie schon versucht, auf Flohmärkten einen Teil ihres Besitzes zu verkaufen. Als sie dann aber abends nach Hause fuhr, war das Auto jedes Mal voller als vorher. Ein Teufelskreis.

Das Messie-Problem akzeptieren

Allein, dass jemand eine Selbsthilfegruppe besucht, da sind sie sich hier einig, wird das Problem nicht lösen. „Wir haben nicht den Stein der Weisen gefunden“, sagt Manfred. „Aber aus unserem eigenen Versagen heraus können wir bereits im Ansatz erkennen, ob ein Schneeball zu einer Lawine wird.“ Wer heute über einen unaufgeräumten Schreibtisch klagt, hat vielleicht in einem Jahr völlig die Kontrolle verloren. „In der Gruppe können wir den Menschen Mut machen, damit sie sich nicht mit ihrer Situation abfinden und sich nicht fallen lassen.“

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Immer gehe es darum, dass Betroffene ihr Problem akzeptieren und eine Bereitschaft entwickeln, etwas zu verändern. Dann gelte es zu überlegen, wie diese Änderung aussehen kann. „Das geht nicht von jetzt auf gleich“, sagt Manfred, „sondern nur Schritt für Schritt. Und oft sind diese Schritte ganz naheliegend, aber alleine kommt man trotzdem nicht drauf – da kann die Gemeinschaft einer Selbsthilfegruppe helfen.“

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