Essen. . Die Politik will Familie und Beruf vereinbaren und setzt dabei auf Krippen-Ausbau und Ganztagsschulen. In der Realität aber misstrauen viele Eltern der bürgerlichen Mitte den staatlichen Angeboten. Sie arbeiten in Teilzeit und kümmern sich lieber selbst um das Nachmittagsprogramm.

Annemette ist IT-Abteilungsleiterin in einer dänischen Firma. Dass sie täglich am frühen Nachmittag nach Hause geht, um ihre beiden Kinder zu betreuen, ist völlig normal. Der gemeinsame Nachmittag ist dänischen Familien heilig. Der französischen Ärztin Claudine hält ein zuverlässiges Schulsystem mit Unterricht bis zum späten Nachmittag den Rücken frei. Und wenn Nancy aus Scarborough in England erzählt, dass sie nur deshalb Vollzeit arbeitet, um ihrem Sohn das renommierte Internat finanzieren zu können, erntet sie anerkennende Blicke.

In Deutschland ist es Tradition, dass ein Großteil der Bildung von den Familien selbst geleistet wird, und das braucht Zeit. Doch die geben Arbeitgeber nur unbezahlt. Claudia Isenberg aus Iserlohn hat sich deshalb für die Halbierung ihrer Arbeitszeit entschieden, und zwar auf Dauer. Dabei gleicht es längst nicht mehr einem Lottogewinn, einen Betreuungsplatz bis zum Nachmittag zu ergattern. Der Kinderkrippen-Ausbau kommt voran, Tagesmütter werden staatlich gefördert, die meisten Grundschulen bieten ein Nachmittagsprogramm im offenen Ganztag. „Für meine Kinder kommt das nicht infrage“, sagt Claudia Isenberg (47) aus Iserlohn.

Morgens Job, Nachmittags Kinderbetreuung

Die Diplom-Betriebswirtin und IT-Beraterin arbeitet jeden Tag bis 13 Uhr bei einer kommunalen Firma. Den Rest des Tages widmet sie der achtjährigen Katharina und dem zwölfjährigen Julius. Ehemann Jan ist IT-Experte und arbeitet Vollzeit. Damit verkörpert Familie Isenberg den Prototyp der Mittelschichtsfamilie. Das deutsche Modell, sozusagen.

Was ist die richtige Lösung? Ganztagsschule oder doch lieber Bildung in Eigenregie?
Was ist die richtige Lösung? Ganztagsschule oder doch lieber Bildung in Eigenregie?

Und das ist durchgetaktet vom ersten Klingeln des Weckers bis zum späten Abend. Neulich erzählte eine andere Teilzeit-Mutter, sie schalte jeden Morgen den Fernseher für die vierjährige Lina an. Dann gebe es kein Gequengel und sie schaffe es rechtzeitig, ihr Kind in den Kindergarten zu bringen und trotzdem – bürotauglich gestylt – um acht Uhr am Schreibtisch zu sitzen.

Ganztagsschule als Tabu-Thema

Auch Claudia Isenberg bleibt kaum Zeit zum Durchatmen. Um 14 Uhr wollen die Kinder essen, danach stehen Hausaufgaben, Fahrten zum Klavierunterricht, zum Basketballverein und zur Kinderchorprobe auf dem Programm. „Dass ich die Hausaufgaben begleite, ist mir sehr wichtig“, sagt sie. „Ich möchte den Bezug zum Unterrichtsstoff haben. Ich möchte wissen, wie der Stand ist, wo ihre Schwächen sind, was sie lernen“. Der Hausaufgabenbetreuung in der Schule traut sie nicht. Dem Ganztagsgymnasium auch nicht. „Dafür müssten die Kinder sehr selbstständig sein. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es besser ist, wenn sie zu Hause sind“.

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Ein Bauchgefühl und ein grundsätzliches Misstrauen: Buchautorin Christine Eichel („Deutschland, deine Lehrer“) kennt diese Argumente. „Das bürgerliche Milieu meidet die Ganztagsschule“, sagt sie, „das ist ein großes Tabuthema“. Tatsächlich ist für Claudia Isenberg der Ganztag etwas für Kinder von allein Erziehenden. Und für sozial Schwache. Bevor das Kind zu Hause allein sei oder die Eltern sich nicht kümmerten, sei natürlich die Betreuung in der Schule besser, sagt sie und ergänzt: „Ich bin froh, dass ich da nicht drauf angewiesen bin.“

Soziale Stigmatisierung durch Schule am Nachmittag

Die zehnjährige Hannah besucht den offenen Ganztag in einer Schule im Essener Süden. Die Eltern schaffen es beide nicht, nachmittags zu Hause zu sein. Hannahs Freundinnen gehen mittags nach Hause, wo entweder die Mutter wartet oder auch ein privates Kindermädchen.

Für Kinder wie Hannah „kann Schule am Nachmittag eine soziale Stigmatisierung sein“, sagt Christine Eichel. „Die Kinder empfinden dann die Ganztagsschule als zweite Wahl“. David hat es leichter. Er trifft seine Lieblingskumpel am Nachmittag auf dem Schulhof wieder. Während Hannah sehnsüchtig auf 16 Uhr wartet und ihrer Mutter entgegenrennt, ist David ins Fußballspielen vertieft und bemerkt den Vater kaum.

Die soziale Mischung einer Grundschulklasse spiegelt sich also nicht unbedingt in der Nachmittagsbetreuung wider. Sind Eltern allein erziehend oder auf ein zweites Vollzeit-Einkommen angewiesen, empfinden viele die Betreuung bis 17 Uhr als Segen. Wenn Vater und Mutter verheiratet sind und der Ehemann ausreichend verdient, setzen sie häufig auf die familiäre Bildung. Und das bedeutet in der Praxis, dass Mütter nachmittags zu Hause sind beziehungsweise deutlich ihre Arbeitszeit reduzieren.

Die Familie ist der Grund für die hohe Teilzeitquote 

Was wie eine überholte traditionelle Rollenverteilung daherkommt, belegen Zahlen des statistischen Bundesamtes, das den letzten Mikrozensus von 2012 auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hin auswertete. Demnach arbeiten in Westdeutschland nur 26 Prozent der verheirateten Ehefrauen mit Kindern Vollzeit, aber 95 Prozent der verheirateten Väter. Für 72 Prozent der Ehepaare mit Kindern gilt das Modell: Der Vater arbeitet Vollzeit, die Mutter Teilzeit. Bei den nicht ehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern gilt das nur für knapp die Hälfte der Paare. Im Vergleich zu 1996 ist zwar die Berufstätigkeit der Mütter insgesamt gestiegen – allerdings auch die Teilzeitquote.

Autorin Christine Eichel sieht Verbesserungsbedarf bei Ganztagsschulen.
Autorin Christine Eichel sieht Verbesserungsbedarf bei Ganztagsschulen. © Imago

80 Prozent der Teilzeit-Mütter geben familiäre Gründe für die Arbeitszeitreduzierung an, Teilzeit-Väter würden gerne mehr arbeiten, finden aber keine geeignete Stelle. Zwar nimmt die Teilzeit-Quote ab, wenn die Kinder älter sind – aber nur leicht. Bei 10- bis 14-jährigen Kindern beträgt sie immerhin noch 68 Prozent, und selbst wenn der Nachwuchs kurz vor der Volljährigkeit steht, sind immer noch knapp 62 Prozent der Mütter Teilzeit zu Hause.

Viele Eltern wünschen sich 'klassische' Schulzeiten

Wenn so viele Mütter Zeit haben, aktiv den Bildungs- und Erziehungsprozess zu gestalten, ist es kein Wunder, dass die Skepsis groß ist, wenn die Politik auf einen flächendeckenden Ausbau der Ganztagsschulen setzt. Dabei gilt ein entzerrter Stundenplan als Heilmittel, um Kindern das Turbo-Abitur leichter zu machen – da sind sich Schulexperten weitgehend einig. Eltern, die nicht auf den Ganztag an Gymnasien angewiesen sind, sehen das anders. Sie wünschen sich die alten Verhältnisse zurück, als die Schule in der Regel nach der sechsten Stunde zu Ende war. So sprachen sich bei einer Forsa-Umfrage 73 Prozent der befragten Eltern gegen eine Ganztagspflicht aus. Wenn überhaupt Ganztag, dann sollten flexible Lösungen her – nach dem Vorbild der offenen Konzepte an den Grundschulen.

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Die Politik in Nordrhein-Westfalen setzt bei den weiterführenden Schulen allerdings eher auf den Ausbau der gebundenen Konzepte – eben auch, um die Chancengleichheit zu erhöhen. Schulen, die an mindestens drei Tagen in der Woche inklusive Mittagspause im Klassenverband bis etwa 16 Uhr unterrichten, gibt es inzwischen in vielen Gemeinden und Städten im Land. Für Anja Nostadt aus Bonn geht der Ausbau klar am Elternwillen vorbei. Die Psychotherapeutin und Mutter führt die Bürgerinitiative „Gib 8“ an. Auch der Siegener Carsten Hohenstein („G9-Jetzt“) macht gegen G8 mobil, sammelt Unterschriften, präsentiert Unterstützerschreiben vom Musikschul- und Pfadfinderverband oder dem Deutschen Olympischen Sportbund – also von just jenen Verbänden und Unternehmen, die angewiesen sind auf die Kinder der bürgerlichen Mitte. Ein ganzer Wirtschaftszweig wie Musik-, Kunst- und Ballettschulen sowie Nachhilfeinstitute lebt obendrein von ihnen.

Es geht nicht nur um bürgerliche Privilegien

Weder Anja Nostadt noch Carsten Hohenstein wollen diese Aufgabenteilung – morgens Unterricht, nachmittags Freizeit und private Bildung – aufgeben. Deshalb sind für sie Gesamtschulen, die das Abitur nach neun Jahren ermöglichen, überhaupt keine Alternative – weil sie verbindliche Ganztagsschulen sind und nach ihrer Meinung Familien den Freiraum nehmen. Das Gleiche gilt für den Schulversuch „G9 neu“, an dem landesweit 44 Gymnasien teilnehmen. „Diese Schulen verzichten weder auf Nachmittagsunterricht noch auf die frühe Einführung der zweiten Fremdsprache in Klasse sechs“, so Marcus Hohenstein.

Womit der Verdacht aufkommt, den Aktivisten gehe es um die Bewahrung bürgerlicher Privilegien. Die meisten Eltern aber geht es nicht um Prinzipien. Sie wollen das Beste für ihr Kind, und da bieten die Schulen eben nicht genug. Und diese Defizite wollen sie kompensieren. Nachmittagsunterricht aber nimmt ihnen die Möglichkeit dazu. „Was die Politik will, entspricht nicht unserem Lebensgefühl“, sagt Claudia Isenberg. Dazu gehöre für sie auch der zunehmende Druck auf Frauen, Vollzeit oder wenigstens vollzeitnah zu arbeiten.

Es reicht mit der Gleichberechtigung!

Mit dieser Haltung liegt Claudia Isenberg voll im Trend. Was schon die Auswertung des statistischen Bundesamtes zur Teilzeit-Vollzeit-Verteilung vermuten lässt, bestätigt eine Allensbach-Studie vom vergangenen Herbst: Obwohl Männer im Durchschnitt 22 Prozent mehr verdienen als Frauen, obwohl nach wie vor in der Regel Männer die Chefetagen erreichen, obwohl vor allem Frauen zu den Geringverdienern gehören, wollen viele vom Thema Gleichberechtigung nichts mehr wissen. Während 2008 noch 72 Prozent der Frauen der Meinung waren, sie seien nicht gleichberechtigt, klagte 2013 darüber nur noch die Hälfte. Von den Männern sind fast zwei Drittel (64 Prozent) der Meinung, es reiche mit dem Thema Gleichberechtigung. Jeder vierte Mann erklärt sogar, die Gleichstellungspolitik sei übertrieben.

Familie Isenberg aus Iserlohn.
Familie Isenberg aus Iserlohn. © WAZ FotoPool

Allerdings haben sich für eine jüngere Arbeitnehmergeneration die Prioritäten deutlich verändert. Es geht ihnen nicht mehr unbedingt um Geld und Karriere. Das nimmt Männern wie Frauen den Konkurrenzdruck. Womöglich hat sich dadurch das Verhältnis der Geschlechter untereinander entspannt. Hinzu kommt: Jüngere Arbeitnehmer lehnen es ab, ständig für den Arbeitgeber zur Verfügung stehen zu müssen, so das Ergebnis einer Studie der Embrace-Medienfabrik, die jüngst veröffentlicht wurde. Die Wertvorstellungen ihres Arbeitgebers, das ethische Verhalten, sind ihnen wichtiger als Geld. Drei Viertel der Fachkräfte wollen Kinder – und zwar gleich zu Karrierebeginn. Der Wertewandel sei bereits in den Unternehmen angekommen, sagt Oliver Burkhard, Personalchef von Thyssen-Krupp, in einem aktuellen Interview mit dieser Zeitung: Männliche Nachwuchskräfte erkundigten sich selbstverständlich nach den Angeboten der Firma zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. „Die wollen wissen, ob es die Möglichkeit zur Kinderpause gibt, ohne der Karriere zu schaden. Nach dem Dienstwagen fragen nur noch wenige“.

So wird die Ganztagsschule attraktiv

Dieser offenkundige Trend lässt vermuten, dass Eltern der Mittelschicht künftig eher noch mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen möchten als heute und alles daran setzen, um die vermeintlichen Defizite des staatlichen Bildungswesens auszumerzen. Kinder, deren Eltern das nicht leisten können oder wollen, werden es auch künftig schwer haben – ob es genügend Ganztagsschulen gibt oder nicht. „Qualität der Schule und Chancengleichheit hängen eben zusammen“, sagt Eichel. „Umgekehrt gilt: Nur wenn Betreuungsintensität sowie Freizeit- und Bildungsangebot stimmen, wird die Ganztagsschule für alle attraktiv.“

Soweit ist es für Claudia Isenberg aber noch lange nicht. Deshalb drängt sie ihre Kinder beim Mittagessen zur Eile. Katharinas Klavierlehrer wartet, Julius muss zum Basketballtraining gefahren werden. Obendrein stehen diese Woche noch eine Mathe- und eine Englischarbeit an. Und die Hausaufgaben sind auch noch nicht gemacht.

Wo Lehrer und Eltern Hand in Hand arbeiten 

Eingetretene Türen, Knallkörper im Unterricht, Lehrer, die ihr Handy auch während der Mathestunde parat haben, um schnell die Polizei rufen zu können: Als vor acht Jahren das Kollegium der Berlin-Neuköllner Rütli-Schule einen öffentlichen Brandbrief schrieb, wurde die Kiez-Hauptschule mit einem Schlag berühmt. Inzwischen hat sich zwar das überregionale Interesse der Medien gelegt. Doch Berlin schafft es die 1. Gemeinschaftsschule – so der neue Name – noch immer, in die Schlagzeilen zu bekommen. Nicht, weil Angst, Schrecken und Anarchie den Alltag bestimmen, sondern weil die Schule inzwischen so beliebt ist, dass sie Kinder abweisen muss.

Dabei hat sich der Kiez kaum verändert: Viele Migranten und sozial Schwache leben hier, die Arbeitslosenquote ist hoch. Aber auch die deutsche Mittelschicht wächst – die Gegend gilt als hip. Bislang zogen die Deutschen weg, wenn die Kinder ins Schulalter kamen, um in einen anderen Schulgrenzbezirk zu kommen. Neuerdings bleiben immer mehr Familien. Die Anzahl der deutschen Kinder in den unteren Klassen steigt.

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Tatsächlich hat sich in den vergangenen acht Jahren viel verändert. Die alte Hauptschule gibt es nicht mehr, inzwischen sind alle Schulabschlüsse möglich, der erste Abiturjahrgang hat die Prüfungen gerade hinter sich. Zum Campus gehört auch eine Grundschule, außerdem eine Volkshochschule, wo Eltern und Kinder ihre Muttersprache vertiefen können sowie eine Musikschule. Im Rahmen des Ganztags ist auch der Einzelunterricht auf der Geige möglich.

Die ehemalige Rütli-Schule wird zum Vorbild

Die Elternarbeit ist besonders intensiv: Alle Familien bekommen nach der Anmeldung einen Hausbesuch. „Die Schule holt die Eltern mit ins Boot“, sagt die Berliner Journalistin und Schulexpertin Christine Eichel. „Das ist genau der richtige Weg“. Denn vielen Eltern fehle die persönliche Zuwendung im Bildungssystem. An der ehemaligen Rütli-Schule sei zwischen Eltern und Lehrern wieder eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entstanden. Die Eltern hätten nun das Gefühl, die Ganztagsschule biete eben mehr als die reine Aufbewahrung am Nachmittag.

Mit einem ähnlichen Konzept macht auch die Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule Göttingen auf sich aufmerksam, die im Jahr 2011 den deutschen Schulpreis bekam. Statt Notengebung steht der intensive Austausch mit den Eltern auf dem Programm. So treffen sich Schüler, Lehrer und Eltern mehrmals pro Jahr bei einem Schüler zu Hause. Die Lernentwicklungsberichte, die die Noten ersetzen, werden mit Eltern und Schülern besprochen, so gibt es für Schüler wie Eltern kaum Gelegenheit, sich auszugrenzen. Auch die evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck (EGG) setzt stark auf die Eltern, sie geben die „wesentlichen Impulse“, heißt es im Leitbild. „Ohne die rege Beteiligung der Familien ist ein Schulleben an der EGG nicht denkbar“.

Für die Schulexpertin Christine Eichel ist der systematische Austausch zwischen Eltern, Lehrern und Schülern das Erfolgsrezept für gute Schulen. Mehr Vertrauen, weniger Mobbing – das bessere Schulklima führe letztlich auch zu besseren Leistungen, das zeige der internationale Vergleich: „Länder, in denen es selbstverständlich ist, dass der Lehrer der Partner von Eltern und Schülern ist, schneiden bei Pisa besser ab.“