Der Berliner Erziehungswissenschaftler und "Scientist in Residence" an der Uni Duisburg-Essen, Heinz-Elmar Tenorth, sieht Sanierungsbedarf im deutschen Bildungssystem. Trotz aller Probleme gebe es Lichtblicke
INTERVIEWPISA und kein Ende - die Ergebnisse der berüchtigten Studie haben ein allgegenwärtiges Problem ans Licht gezerrt: die Bildungsmisere. Doch wer hat Schuld? Die Schule, die Eltern oder die allseits verdächtigten Medien? Der renommierte Berliner Erziehungswissenschaftler und derzeitiger Scientist in Residence an der Uni Duisburg-Essen, Heinz-Elmar Tenorth, verriet im WAZ-Gespräch mit Mitarbeiterin Kristin Dowe, wohin das Land der Dichter und Denker auf lange Sicht steuert.
Die desolate Bildungssituation ist ein deutsches Dilemma, das sich im Zuge der PISA-Studie besonders drastisch gezeigt hat. Wo liegen die wesentlichen Ursachen?
Tenorth: Das Schulsystem ist nicht die alleinige Ursache für das Bildungsproblem. Zunächst haben sich die Leistungen der Schüler im Vergleich zu 2000 verbessert, und das Phänomen ist weitaus vielschichtiger. Die Hauptschulen sind da besonders betroffen. Eine Studie hat gezeigt, dass 73 Prozent der Hauptschüler eine Lesekompetenz besitzen, die beinahe an Analphabetentum grenzt. Das soziale Umfeld spielt dabei eine entscheidende Rolle. Gerade in Migrantenfamilien wird die Verkehrssprache Deutsch nicht gesprochen, was auf den Schulbetrieb übertragen wird.
Manche Bildungsreformer sehen die Lösung in der Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems...
Tenorth: Ich glaube, das ist nicht der entscheidende Punkt. Man hat gesehen, dass die Leistungen der Gesamtschüler auch nicht besser waren. Viel wichtiger erscheint mir die Arbeit im Klassenzimmer. Beispielsweise müsste man die Klassen deutlich verkleinern und eine Form des Förderunterrichts einführen, der jedem Kind mit seinen Talenten und Schwächen individuell gerecht wird. Das dreigliedrige Schulsystem halte ich insgesamt für sinnvoll.
Dann erfüllt die Hauptschule auch einen Zweck?
Mit Sicherheit. Trotz aller Probleme sind die Hauptschulen stärker praktisch ausgerichtet. Schüler mit handwerklichem Geschick können ihre Fähigkeiten dort viel besser entfalten als in einem gymnasialen Umfeld. Die Hauptschulen sollten selbstbewusster sein und ihr Profil als Schule schärfen. Die Rütli-Schule ist da ein gutes Beispiel. Nachdem sie in die Negativ-Schlagzeilen geraten war, haben Schüler und Lehrer an einem Strang gezogen und beeindruckende Projekte auf die Beine gestellt. Die Schüler haben zum Beispiel T-Shirts designt und später auf Modemessen präsentiert!
Wie kann man den Problemen noch entgegenwirken?
Tenorth: Die Schulen sollten künftig eine Art kritische Selbstkontrolle betreiben, wobei der Stadt sich ganz raushalten sollte. Natürlich muss man auch mehr in das Bildungssystem investieren, um bessere Lernbedingungen zu ermöglichen.