Essen. Alle Menschen mögen Tiere, nur streicheln sie die einen, während sie die anderen in die Pfanne hauen. Wie kann es sein, dass die einen zum besten Freund des Menschen taugen, die anderen aber bestenfalls zum Steaks verarbeitet werden. Ein Erklärungsversuch.

Wie eine Mischung aus Rind und Wild schmecke es, meinen die einen. Eher wie fettiges Schweinefleisch, sagen die anderen. Vielleicht wie eine Mischung aus Hase und Hühnchen, meinen die einen. Leicht süßlich, sagen die anderen. Die Rede ist von Hundefleisch. Gekocht, gegrillt, geräuchert. Sind Sie jetzt kurz zusammengezuckt? Haben sich geekelt? Ich kann Sie beruhigen: In Deutschland ist der Verzehr von Labradorsteak oder Pudelgulasch ebenso verboten wie der Genuss von Katzenschnitzeln. In der Schweiz allerdings, da dürften Sie, wenn Sie wollten . . . Sie wollen nicht? Um nichts in der Welt? Sind Sie Vegetarier, Veganer? Nein? Warum würden Sie dann keinen Hund essen?

Wir lieben unsere Haustiere - warum nicht auch Kühe und Schweine?

Wir lieben unsere Haustiere. Wir machen uns Gedanken über ihre Gesundheit, Erziehung, Ausbildung oder Unterhaltung. Wir lassen sie mit Akupunktur und Aromatherapie verwöhnen, setzen ihnen Biofutter vor und suchen im Internet nach Anleitungen für Katzenmassagen. Wir lieben aber auch Schweine, Rinder und Hühnchen, wir haben sie zum Fressen gern: Laut Statistischem Bundesamt sind im Jahr 2013 in Deutschland 58,6 Millionen Schweine, 3,5 Millionen Rinder und 613 Millionen Hühner geschlachtet worden. Was aber unterscheidet diese Tiere von den 22 Millionen Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Hamstern und Wellensittichen, die in deutschen Haushalten leben? Warum hätscheln wir kläffende und miauende Vierbeiner, während wir ihre grunzenden oder muhenden Verwandten tot, zerlegt und eingeschweißt bevorzugen?

„Haustiere werden von uns individualisiert, als Subjekt wahrgenommen – und ein Familienmitglied oder einen Freund isst man eben nicht“, sagt die Soziologin Julia Gutjahr, die sich an der Universität Hamburg mit einer noch jungen Forschungsrichtung beschäftigt: den Human-Animal-Studies. Diese interdisziplinäre Wissenschaft untersucht das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren beispielsweise in soziologischer, psychologischer und kulturwissenschaftlicher Hinsicht. Und kommt dabei zu dem Schluss: „Private Gewalt an Tieren wird ganz selbstverständlich skandalisiert und rechtlich sanktioniert“, so Julia Gutjahr, „institutionelle Gewalt kann hingegen größtenteils unhinterfragt vollzogen werden“.

Das bedeutet: Wer absichtlich die Nachbars­katze tritt, muss sich auf eine Anzeige wegen Tierquälerei und Sachbeschädigung gefasst machen – und zieht womöglich die Wut der gesamten Anwohnerschaft auf sich. Wer in Schlachthöfen täglich tausende Hühner töten lässt, verhält sich gesetzestreu und wird, abgesehen von ein paar militanten Vegetariern, niemanden gegen sich aufbringen.

Wie können die sowas tun?

Ein weiteres illustres Beispiel für diese These stammt aus der Schweiz: Dort waren Berichte über Landwirte aufgetaucht, die keinen Hehl daraus machten, dass sie gern Hundefleisch verzehrten. Das Thema wurde medial ausgeschlachtet, die Stimmung kochte hoch. Reflexartig verurteilen auch wir diese Hundefresser: Wie können sie so etwas tun? Der Hund ist der beste Freund des Menschen! Das mag stimmen – doch wer sagt, dass ein Schwein nicht ein ebenso guter Freund sein würde, wenn wir es ließen?

„Schweine sind hochintelligente und soziale Tiere“, sagt die Tierpsychologin Doris Gräwe, die sich selbst lieber als „Verhaltensberaterin für Menschen mit Tieren“ bezeichnet, denn: „Tierpsychologin – das hat so einen Touch“. Bei ihrer Arbeit sieht sie täglich traumatisierte und gestresste Tiere und ist der Ansicht: „Vom Empfinden her trennt uns nichts von ihnen“. Auch Hunde und Katzen könnten trauern, sogar Anzeichen von Depressionen zeigen, Gleiches gelte für die sogenannten Nutztiere, die in der Massentierhaltung „seelisch verkümmern“ würden. Trotzdem dürfen und wollen wir nur die einen essen und die anderen nicht.

Von der juristischen Normierung einmal abgesehen: Wer hat eigentlich entschieden, dass es moralisch vertretbar ist, ein Kalbsfilet zu braten, und pervers, einen Papageienflügel zu grillen? „Es gibt verschiedene Erklärungsmodelle für Nahrungstabus“, sagt Julia Gutjahr. „Ein Ansatz ist, dass Tiere, die dem Menschen besonders ähnlich oder besonders unähnlich sind, nicht gegessen werden“. Das würde zwar erklären, wieso wir keine Affen und keine Schmetterlinge verspeisen. Aber wo ordnen wir da die Hunde und Schweine ein, die aufgrund ihrer ähnlichen kognitiven Fähigkeiten eigentlich derselben Kategorie angehören müssten?

Die weltweite „Fleischeslust“ unterscheidet sich nur wenig 

„Eine andere Erklärung besagt, dass Tabus eine Funktion für die soziale Ordnung haben“, so Julia Gutjahr weiter, „sie dienen der Abgrenzung von anderen Bevölkerungsgruppen“. Das mag früher einmal so gewesen sein, doch heutzutage unterscheidet sich die Weltbevölkerung in ihrer globalisierten „Fleischeslust“ nur durch Nuancen, die eher religiös motiviert sind. Hühnchen wird beinahe überall als essbar eingestuft.

Der dritte Ansatz ist der pragmatischste: „Bestimmte Tiere waren in bestimmten Gegenden eben gut zu halten“. Doch auch diese Erklärung kann zwar die Entstehung, nicht jedoch die Aufrechterhaltung unserer Kategorien essbar/nicht essbar begründen. Demnach gibt es – zumindest heutzutage – kein vernünftiges Argument mehr dafür, dass wir die einen streicheln und die anderen essen.

Wenn man sich nun klarmacht, dass nicht nur Hundewelpen sondern auch Ferkel auf ihren Namen hören, dass nicht nur Papageien, sondern auch Hühner ohne Gefährten einsam sind, dass sie Studien zufolge ein gutes Gedächtnis haben, bis zu 30 ihrer Artgenossen erkennen können und sich untereinander mit etwa 20 verschiedenen Lauten verständigen, lässt sich das mit dem Bild vom knusprigen Hähnchenschenkel nicht wirklich gut vereinbaren.

Schlachttiere werden verdinglicht

Deshalb beugen wir uns nur zu gern diversen Mechanismen, die verhindern, dass wir beim Genuss von Frikadellen an friedlich grasende Kühe und fröhlich quiekende Schweine denken. Da wäre zum einen unsere Sozialisation: Wer in unserem Kulturkreis auf Fleisch verzichtet, muss das regelmäßig begründen, wer hingegen Fleisch isst, gehört zum Mainstream. Die meisten von uns sind förmlich mit Schinkenbroten großgezogen worden. Dass der Schinken mal ein Schwein war? Tja.

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Zum anderen wirkt die räumliche Trennung von Lebewesen und Lebensmittel: Kaum jemand hat heutzutage noch Kontakt zu den Tieren, aus denen unsere Nahrung gemacht wird. Und ihre Verwandlung in Wurst, Filet oder Hack findet dort statt, wo wir möglichst wenig davon mitbekommen. Dem Produkt, das wir letztlich im Supermarkt kaufen, sieht man seine tierische Herkunft meist nicht mehr an. „Tiere werden verdinglicht, die Gewalt an ihnen entöffentlicht“, sagt Julia Gutjahr. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Die kollektive Verdrängung

Eine wichtige Rolle bei der kollektiven Verdrängung spielt auch unser Vokabular. Denn es scheint fraglich, ob noch immer 85 Prozent der Deutschen nahezu täglich Wurst oder Fleisch essen würden, wenn auf der Bratwurstverpackung „gemahlenes und geschreddertes junges Schwein im eigenen Darm“ und auf der Steakverpackung „Muskel aus dem Kuhrücken“ stehen würde.

Für die Sozialpsychologin Melanie Joy ist das Zusammenspiel dieser Mechanismen, die unsere Empathie so erfolgreich lahmlegen, vergleichbar mit einer Ideologie, die sie als „Karnismus“ („carnism“) bezeichnet. Das Kunstwort setzt sich aus „carn“, also Fleisch, und der Endung „-ism“, die für ein Überzeugungssystem steht, zusammen. Ob man Fleisch konsumiere, sei in der Regel keine bewusste, individuelle Entscheidung, sondern eine tief verinnerlichte, kollektive Übereinkunft.

1094 Tiere verspeist der Durchschnittsmensch im Leben 

Im Laufe eines Lebens verspeist jeder von uns im Durchschnitt 1094 ganze Tiere – so ist es dem „Fleischatlas 2013“ der Heinrich-Böll-Stiftung zu entnehmen. Damit wir diese Masse konsumieren können, sind hocheffektive Zucht-, Mast-, Tötungs- und Verarbeitungsprozesse entwickelt worden. Ein Beispiel: Mit etwa 13 Monaten ist ein Rind „schlachtreif“. Von dem sicherlich nicht erfreulichen Transport zum Schlachter einmal abgesehen soll es eigentlich nicht leiden. Die Tierschutz-Schlachtverordnung sieht vor, dass ein Tier vor der Schlachtung „schnell und unter Vermeidung von Schmerzen oder Leiden in einen bis zum Tod anhaltenden Zustand der Empfindungs- und Wahrnehmungslosigkeit versetzt“ wird.

Das geschieht beim Rind, indem ihm mit einem Bolzenschussgerät ein Stahlbolzen durch die Schädeldecke getrieben wird. Im Idealfall zertrümmert der Bolzen das Gehirn und schaltet so tatsächlich die Wahrnehmungsfähigkeit aus. Kopfüber aufgehängt, wird das Rind dann aufgeschlitzt und mit einem „Entblutungsschnitt“ getötet. Anschließend werden ihm Kopf und Füße abgetrennt, danach wird es gehäutet, entweidet, gekühlt und zerlegt. Verschiedenen Untersuchungen zufolge liegen die Fehlerquoten der Betäubung bei vier bis neun Prozent, das bedeutet: Ein paar hunderttausend Rinder leiden Qualen, die selbst der überzeugteste Fleischesser ihnen nicht wünschen wird.

Schweine werden nach der Betäubung zusätzlich in ein Siedebad getaucht, damit eine Maschine ihnen Haut und Borsten besser abziehen kann. Manchmal sind auch sie während der Prozedur noch bei Bewusstsein.

Sie wollen das nicht wissen? Sie können sich schließlich nicht um alles Gedanken machen? Ja, genau da liegt der Hund begraben.

Wir halten Fleischkonsum für normal

Der Mensch lehne Gewalt an Mitgeschöpfen eigentlich ab, schreibt Melanie Joy in ihrem Buch „Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen“. „Unsere Wertvorstellungen decken sich nicht mit unserem Verhalten, und diese Diskrepanz bereitet uns ein gewisses moralisches Unbehagen“. Unsere Strategie im Umgang mit diesem täglichen Konflikt: „nichts sehen, nichts hören und nichts sagen“.

Weil wir Fleisch essen wollen, müssen wir verdrängen, woher es kommt und wie es entsteht. Denn es leiden nicht nur die paar hunderttausend Rinder, bei denen die Betäubung misslingt. Schon die Haltungsbedingungen sind alles andere als tierfreundlich, ebenso Praktiken, wie etwa die betäubungslose Enthornung und Kastration bei Rindern oder das Schnabelkürzen bei Hühnern.

Wenn uns die Fleisch-Herstellung also dermaßen zuwider ist, dass sie uns den Appetit verdirbt – warum streichen wir dieses moralisch verwerfliche Produkt dann nicht von unserem Speiseplan und entlasten unser Gewissen? Weil wir Fleischkonsum für „normal, natürlich und notwendig“ halten, sagt Melanie Joy.

Der Mythos von der biologischen Notwendigkeit 

Die biologische Notwendigkeit ist ein Mythos, der sich leicht entkräften lässt: Wissenschaftler gehen davon aus, dass wir uns erst im Laufe der Evolution zum Fleischfresser entwickelt haben – unsere Vorfahren kamen mit Früchten und Körnern gut zurecht. Zwar können wir die im Fleisch enthaltenen Aminosäuren besonders leicht verwerten, doch das gilt auch für andere Lebensmittel wie zum Beispiel Hülsenfrüchte.

Auf Dauer leben Vegetarier angeblich sogar gesünder als Fleischesser: In Studien wurden bei ihnen bessere Blutwerte und weniger Krebserkrankungen festgestellt. Die Forscher blieben zwar vorsichtig und sahen die Ergebnisse dadurch relativiert, dass viele Vegetarier insgesamt einen gesünderen Lebenswandel pflegten als Nicht-Vegetarier. Doch bei verarbeiteten Fleischprodukten wie Wurst oder Schinken lasse sich definitiv ein negativer Effekt auf die Gesundheit feststellen: Das Risiko für Diabetes und Herzerkrankungen nehme durch den Verzehr zu.

Da wir Allesfresser aber unverbesserlich sind, wenn man uns sagt, was schlecht für uns ist, und noch viel unverbesserlicher, wenn es nicht um uns, sondern um ein paar Millionen Masttiere geht, besteht eigentlich kein Grund anzunehmen, dass sich in diesem Gefüge jemals etwas ändern könnte. Julia Gutjahr ist dennoch optimistisch: „Es ist ein grundsätzlicher Wandel im Mensch-Tier-Verhältnis festzustellen – das ist mehr als ein Trend“.

Die Forschung will aus der ethischen Sackgasse helfen

Die Auswahl an verschiedenen Lebensmitteln ist so groß wie nie, alles ist beinahe jederzeit verfügbar. Anders als unsere fleischfressenden Vorfahren können wir es uns leisten, unsere Nahrung bewusst auszuwählen, nach geschmacklichen, aber auch nach moralischen Kriterien. Und selbst wer glaubt, auf Fleisch nicht verzichten zu können, hat in einigen Jahren vielleicht die Möglichkeit, seine Essgewohnheiten beizubehalten, ohne dass dafür Tiere sterben müssen: An der Universität Maastricht forscht der Biomediziner Mark Post an der Herstellung von künstlichem Fleisch, gezüchtet aus Stammzellen.

Noch ist das Verfahren unausgereift und teuer: 300 000 Euro kostete der erste auf diese Weise hergestellte Burger, den der Wissenschaftler im vergangenen Sommer der Öffentlichkeit präsentierte. Hat er bei dem Preis wenigstens geschmeckt, der „In-Vitro-Burger“? Er komme „nah an Fleisch heran“, sei aber „nicht ganz so saftig“ befanden die Testesser. Ein Makel, der auch bei echtem Fleisch zuweilen auftreten dürfte.

In zehn bis 20 Jahren könne sein Produkt marktreif sein, sagt Mark Post. Bleibt abzuwarten, ob die Verbrauchermacht ihm überhaupt eine Chance gibt. Im Internet argumentierten jedenfalls viele Konsumenten mit ihrem Wunsch nach „natürlichem Essen“ gegen die „Retortenpampe“. Wie natürlich das Fleisch aus hochgezüchteten turbogemästeten toten Tieren ist, fragten sich die Natürlichkeitsfans nicht. Hauptsache es schmeckt nach Schwein oder Huhn oder Rind – und enthält keinen Hund.