Hattingen. Tausende filmen sich, wie sie den ganzen Tag im Bett bleiben - und laden die Videos hoch: Bed Rotting ist das neue Hygge. Schlafforscher warnen.
„Was machst du gerade?“ – „Ich liege im Bett. Aber du kannst mir ja auf TikTok dabei zugucken.“ Man stelle sich vor: Menschen filmen sich dabei, wie sie sich im Bett herumfläzen, räkeln, dösen, die Laken zerwühlen und faulenzen – und stellen das ins Netz. Was derart zum Gähnen klingt, ist ein neuer Trend auf TikTok. Er heißt „Bed Rotting“ und schlafwandelt sich derzeit international zum Erfolg, weil auch durchs Zuschauen schon eine gewisse Entschleunigung entsteht. Bequemer ist man wohl noch nie zum Star in den Sozialen Medien geworden.
Selbstfürsorge? Schlafforscher warnen
Und gleich ist ein Streit ums „Bed Rotting“ entbrannt, weil die Anhänger ihre Nicht-Tätigkeit als reine Selbstfürsorge betrachten, als bestes Mittel, die vom anstrengenden Alltag ausgelaugten Batterien wieder aufzuladen. Auf der anderen Seite stehen unter anderem Schlafexperten, die davor warnen, dass es den gesunden Nachtschlaf beeinträchtigen kann. Wer ohnehin schon Schlafstörungen hat, sollte seinen Körper nicht noch zusätzlich durcheinanderbringen. Der Trend steht auch vielen Empfehlungen zur Schlafhygiene entgegen, etwa dass man jeden Tag zur gleichen Zeit ins Bett gehen sollte und einen Puffer zwischen Tages- und Nachtzeit schaffen sollte. Und bei Schlafstörungen lautet eine wichtige Regel, nicht zu lange im Bett liegen zu bleiben, weil dies die Probleme oft verstärkt.
Hygge, Niksen, Lagom, kalsarikännit
Wir leben ja in einer Gesellschaft, in der das Nichtstun eigentlich verpönt ist und in der To-Do-Listen unseren Alltag dominieren, in der selbst die Freizeit optimiert und durchgeplant wird, damit man ja nichts verpasst. Kein Wunder also, dass seit Jahren immer wieder neue Trends zum Nichtstun aufrufen, sei es das „Niksen“, das vor vier Jahren von der Modezeitschrift Vogue als probates Mittel gegen Burn-out propagiert wurde, das skandinavische „Hygge“ oder „Lagom“ oder ein eindeutig satirisch gemeinter Trend namens „kalsarikännit“, angeblich die finnische Kunst, „sich zu Hause alleine in Unterhosen zu betrinken“.
Erholung tut offensichtlich Not, die Popularität von Resilienz-Ratgebern belegt es. Und fürs „Bed Rotting“ braucht man nichts weiter als ein Bett, Decken, Snacks, vielleicht noch eine Fernbedienung. Und ein… Smartphone?
Smartphone als Dauerstörer verbannen
Moment mal, an dieser Stelle wird es kritisch. „Wer im Bett hängt und dabei Soziale Medien konsumiert, tut seiner Seele nichts Gutes“, sagt Rolf Schmiel (50) aus Hattingen, Psychologe, Redner und Autor von Motivationsbüchern. Es ist also ein wenig paradox, denn der TikTok-Trend „Bed Rotting“ führt erst dann zur Erholung für den Geist, wenn man dabei TikTok & Co. weglässt. Und das gilt nicht nur fürs exzessive Abhängen im Bett. Auch bei einem Waldspaziergang, einem Saunabesuch oder anderen Wellness-Aktivitäten sollte man sich angewöhnen, „den Dauerstörer des Alltags“, nämlich das Smartphone, zu verbannen.
Schmiel bringt es auf die griffige Formel: „Jede Form von Entschleunigung ist immer mit Digital Detox verbunden, sonst ist es keine Entschleunigung.“
Im Bett mit John Lennon und Yoko Ono
Dass Menschen mal einen Tag im Bett liegen bleiben, ist ja nichts Neues, von Wencke Myrhes „Ein Sonntag im Bett“ (1979) bis zu Morrisseys „Spent The Day In Bed“ (2017) ließe sich der kulturelle Bogen über viele Stationen spannen. Dass man dabei aber Tausende oder potenziell sogar Millionen zuschauen lässt, das kannte man eigentlich nur von John Lennons und Yoko Onos öffentlichem „Bed-In“ 1969 im Hilton Hotel in Amsterdam, das immerhin von Ende März bis Anfang Juni dauerte. Da wären moderne „Bed Rotter“ sicherlich neidisch.
Tatsächlich kann so eine Auszeit im Bett gut tun: „Wenn jemand über mehrere Tage massiv herausgefordert war, mental oder körperlich, und er gönnt sich eine echte Pause im Bett, dann ist das wunderbar – auch wenn man es gemeinsam mit der Partnerin oder dem Partner tut.“ Ein Buch lesen? Das tut gut, solange es nicht zu nervenaufreibend geschrieben ist. Den Arbeitsplatz ins Bett zu verlegen? Das hingegen ist schlecht. Gerade Bewegtbilder zu konsumieren, also zu streamen, fernzusehen oder auf YouTube oder TikTok (!) zu rumzuschauen sei „schwierig, weil es unser Hirn befeuert mit neuronalen Impulsen“ – was natürlich das Zur-Ruhe-Kommen verhindert.
Warnung bei Depressionen
Und es gibt Situationen, in denen es sich von selbst verbietet, dem „Bed Rotting“ zu frönen: „Wenn es Hinweise gibt, dass jemand in einer depressiven Episode steckt, dann ist ,Bed Rotting‘ die schlechteste Empfehlung überhaupt, weil derjenige sowieso Schwierigkeiten hat, sich zu aktivieren. Wenn er dann noch dazu inspiriert wird, nie mehr den Ort zu wechseln, dann führt das eher zu einer Unterstützung seines destruktiven Lebensgefühls, attestiert der Psychologe.
Die Resilienzforschung empfiehlt ohnehin eher eine ausbalancierte Mischung aus aktiver und passiver Erholung. „Generell ist das Antizyklische das, was Körper und Geist guttut. Wenn jemand bei der Arbeit viel sitzt, sollte er sich in seiner Freizeit entsprechend aktivieren. Wer aber die ganze Zeit auf den Beinen ist, der darf dann abends auch mal in Ruhe in der Badewanne liegen und gar nichts tun…“ Womit Schmiel wahrscheinlich den nächsten Trend erfunden hätte, der es bisher noch nicht auf TikTok geschafft hat: „Bathtub Floating“.
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