Essen. Eine US-Amerikanerin lotst Helikoptereltern in die Landezone – und löst damit in den sozialen Medien bei jungen Eltern Begeisterungsstürme aus.
Einer neuer Erziehungstrend macht in den sozialen Medien die Runde: „Sittervising“. Sitting und supervising stecken in dem Kofferwort, das die Lehrerin und Mutter dreier Kinder Susie Allison in die Debatte gebracht hat. In ihrem Ratgeber-Blog für Eltern namens „Busy Toddler“ erklärt sie das Konzept so: Hinsetzten, Kinder spielen lassen, wachsam bleiben, zurücklehnen.
Klingt einfach, sei es aber nicht: Zu stark seien Eltern heutzutage darauf gepolt, ständig präsent zu sein und ihre Kinder keine Minute aus den Augen zu lassen. Zwar sei es verständlich, dass Eltern glaubten, auf diese Art gerade richtig zu handeln – das stimme aber nicht immer, schreibt Allison in ihrem Blog. Dabei spiele auch sozialer Druck eine Rolle: Ihr sei es egal, was andere Eltern auf dem Spielplatz denken, denn Sittervising helfe Kindern enorm bei der Entwicklung.
Das ständige Sich-Einmischen in die Spiele der Kinder begrenze nachweislich deren Entwicklungsmöglichkeiten: Die Fähigkeit, Probleme zu lösen, Risiken einzuschätzen oder richtig zu kommunizieren etwa. Auch die Vorstellungskraft der Kinder leide und ein eigenständiges Denken würde von überpräsenten Eltern – ohne, dass die das wollen – stark beeinträchtigt, so Allison weiter. Und dass auch Eltern von einer Auszeit profitierten, muss wohl nicht eigens erläutert werden.
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„Im Ernst? Das ist, was in den 60er Jahren alle Eltern gemacht haben!“
Die Reaktionen bei Instagram: Viel Zustimmung („Ich liebe es, das ist gut für beide Seiten.“), oft mit Augenzwinkern („GESTERN lief es hervorragend.“). Andere winken ab: „Mein beiden ein- und zweijährigen Kinder geben mir genau 30 Sekunden.“ Alles junge Eltern. Einzig eine Vertreterin der älteren Generation wendet ein: „Im Ernst? Das ist doch das, was in den 60er Jahren alle Eltern gemacht haben!“
In der Mode kehrt bekanntlich alles früher oder später wieder und wenn Sittervising zumindest bei Instagram und Tik Tok gerade im Trend liegt, dann steckt in diesem Einwand vielleicht mehr als ein Körnchen Wahrheit.
Was ist also dran am neuen Buzzword – und warum müssen Eltern erst darauf gebracht werden, ihre Kinder auch mal in Ruhe zu lassen? Und was sagt das über die heutige Generation von Eltern aus? Das haben wir Mark Read gefragt, Vater zweier Kinder und Redakteur beim Online-Magazin Hallo:Eltern.
„Das zeigt, wie groß heutzutage der Druck ist.“
Herr Read, für wie sinnvoll halten Sie den Ansatz?
Mark Read: Grundsätzlich ist „Sittervising“ ein durchaus sinnvoller Ansatz, weil er eine „Win-Win-Situation“ verspricht: Die Eltern bekommen eine Verschnaufpause und die Kinder können sich ohne Einmischung austoben. Daraus sollte natürlich kein Freifahrtschein für vermeintlich gestresste Eltern werden, sich stundenlang komplett auszuklinken. Auch Eltern, die sich mal eine Pause gönnen, haben noch eine Aufsichtspflicht.
Ist „Sittervising“ wirklich etwas Neues?
Aus meiner Sicht überhaupt nicht. Kinder einfach mal spielen zu lassen, ohne ständig präsent zu sein, war in früheren Zeiten ganz normal. Dass „Sittervising“ als vermeintlich neuer Erziehungsstil jetzt solche Begeisterungsstürme auslöst, zeigt eher, wie groß heutzutage der Druck ist, der auf Eltern lastet. Und wie bereitwillig alles aufgenommen wird, das Eltern ein bisschen „normales Leben“ verspricht.
Worauf reagiert der Trend in ihren Augen?
Eltern haben heute vermutlich das Gefühl, ihren Kindern ständig „ein Programm bieten“ zu müssen, beziehungsweise dass es ihnen negativ ausgelegt wird, wenn sie sich auch mal anderen Dingen widmen oder tagsüber kurz Kraft tanken möchten. Meiner Meinung nach ist das auch den sozialen Medien geschuldet, in denen sich angebliche „Super-Eltern“ präsentieren und so unrealistische Erwartungshaltungen schaffen.
Das hat zur Entstehung des Phänomens „Helikoptereltern“ gewiss beigetragen. Aus meiner Sicht ist daran problematisch, dass Kinder unter dieser Dauerbeschallung zunehmend verlernen, sich selbst zu beschäftigen. Ich nenne das gerne „gesunde Langeweile“ – etwas, das in früheren Zeiten ganz normal war und das Kinder dazu zwingt, sich selbst Spiele oder Beschäftigungen auszudenken. Unter diesem Aspekt ist „Sittervising“ sicher sinnvoll – da es eine Rückkehr zu mehr „Lass die Kinder mal machen“ propagiert.