Essen. Die meisten Deutschen wünschen sich mehr Freude und Spaß im Leben. Aber sie suchen danach oft an den falschen Plätzen. Eine Bestandsaufnahme.

Im vergangenen Sommer war es schon wieder zehn Jahre her, dass die Deutschen einander ausgelassen in den Armen lagen, dass sie jubelten und feierten und sich so lässig gaben wie nie zuvor. Weil ja eine Fußballweltmeisterschaft über das Land gekommen war. So dass man angesichts der überschäumenden Lebensfreude schon hätte vermuten können, dass sich das Bild des Deutschen in der Weltöffentlichkeit nun endgültig gewandelt hätte. Es war ein Sommer wie ein Rausch. Doch wie das mit den Räuschen so ist: Sie verfliegen allzu schnell.

Am Bild des Deutschen als pünktlich, zuverlässig und leicht pedantisch, sprich: ein bisschen verkniffen, hat sich aber seit dieser Zeit nur wenig geändert. Dabei wurde in den lebenshungrigen 80er-Jahren der Boden für die Spaßgesellschaft bereitet, die in den 90ern die Feuilletons beschäftigte. Wir erinnern uns: Durch den Börsenboom, die New-Economy-Blase und den damit einhergehenden Comedy-Boom fürchteten viele einen erhöhten Materialismus und sahen die endgültige Verflachung der Kultur herannahen. Allerdings wurde spätestens kurz nach Beginn des Jahrtausends schon das Ende ebenjener Spaßgesellschaft ausgerufen.

Jüngst kam dann bei einer repräsentativen Umfrage heraus: Die Deutschen sind zu 82 Prozent der Meinung, dass es unserer Gesellschaft besser ginge, wenn wir mehr Spaß im Leben hätten. Gefragt hatten die Meinungsforscher der GfK im Auftrag des Mediamarkts. Und wenn man diese Zahl mal kritisch unter die Lupe nimmt, darf man sich schon fragen: Was ist eigentlich bei den übrigen 18 Prozent falsch gelaufen?

Gesellschaftlicher Druck, perfekt sein zu müssen

Die Deutschen, sie stecken ein bisschen in der Mentalitätsfalle, denn bei der Umfrage kam auch heraus, „dass fast jeder zweite Deutsche (45%) einen gesellschaftlichen Druck empfindet, perfekt sein zu müssen! Gerade die junge Generation erlebt diesen Druck, beruflich erfolgreich und körperlich fit sein zu müssen, besonders stark.“ Das stellt der Sprockhöveler Motivationspsychologe Rolf Schmiel angesichts dieser Zahlen fest.

Befinden wir uns tatsächlich in einer Gegenbewegung? Ist auf die Spaßgesellschaft der 90er-Jahre eine weitgehend spaßbefreite Gesellschaft gefolgt? „Es ist tatsächlich so, dass damals viel mehr Fokus auf Freude durch Konsum gerichtet wurde. Und es gab den durchaus berechtigten Vorwurf des Materialismus und Hedonismus. Der persönliche Spaß der Menschen stand also im Mittelpunkt“, sagt Schmiel. Er sieht als einen der Vorboten dieser lustbetonten Ära unter anderem einen Song aus der Zeit der Neuen Deutschen Welle. Markus sang 1982 „Ich will Spaß!“ und rief auf zum hemmungslosen Gasgeben mit dem Auto, dem ultimativen Statussymbol jener Tage. „Was ja durchaus eine Überzeichnung der damaligen gesellschaftlichen Situation war. Aber als Markus gesungen hat: ,Mein Maserati fährt 210’, ging es eben nicht darum, dass es politisch nicht korrekt war, die Umwelt zu vergiften. Sondern eher darum, dass es ein Ausdruck von beruflichem Erfolg war, der hier ironisiert auf die Spitze getrieben wurde.“

Die Rückkehr des „Tutti Frutti“-Zeitalters?

Das passte in die Zeit und zog eine noch größere Sehnsucht nach oberflächlichem Vergnügen nach sich. Nicht umsonst feierte damals das Privatfernsehen mit einer ganzen Reihe von an der Oberfläche dümpelnden Unterhaltungsangeboten seine ersten Siegeszüge. „So etwas wie ,Tutti Frutti’ passte in diesen Jahren wirklich zum Zeitgeist. Man hatte auf einmal eine Offenheit für einen im Nachhinein betrachtet zu oberflächlichen Spaß. Es war ja schon ein Extrem, dass es nur noch um Oberfläche, Verpackung und gute Laune ging. Aber wir Deutschen neigen aus meiner Sicht dazu, in die Extreme zu kippen. Und dann gibt’s eben genau den Gegentrend“, befindet Schmiel.

Ein Blick in die TV-Zeitschrift für den heutigen Samstag könnte einen schon glauben machen, dass sich an der Oberflächlichkeit seitdem nichts geändert hätte. 20.15 Uhr, die Gesangs- und Demütigungsshow: „Deutschland sucht den Superstar“, 22.15 Uhr, Ekel aus dem Dschungelcamp: „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“, 23.45 Uhr, erleichtertes Auflachen: „Chris Tall live! Selfie von Mutti“. Und das alles läuft nur auf RTL! Vor wenigen Wochen hatte sogar „Tutti Frutti“ ein Comeback. Also ist alles beim Alten geblieben? Der große Unterschied ist: Damals klebte noch die halbe Nation vor den nackten Tatsachen, es gab ja nicht viele Sender.

Heute ist die Auswahl vielfältiger

Nun ist es im Gegenzug heute auch noch nicht so, dass alle von RTL II auf Arte umschalten, aber durch die große Auswahl an Programmen, die jeder heute ganz selbstverständlich verfügbar hat, kann man viel leichter aussuchen, wann man sich oberflächlich berieseln lassen will – und wann man vielleicht auch in der Unterhaltung etwas mehr Tiefe sucht.

Die gestiegene Zahl der Fernsehprogramme ist aber nur eine Ausprägung einer schwindelerregend gestiegenen Menge von Informationen, die auf die Deutschen heute niederprasseln.

Wir haben verlernt, uns in der Freizeit zu entspannen 

Man schätzt, dass im Jahr 2016 täglich rund 215 Milliarden E-Mails verschickt wurden. Wenn man dies umrechnet auf eine Weltbevölkerung von 7,4 Milliarden Menschen, kommt jeder einzelne von ihnen auf durchschnittlich 29 Mails. In einem industriell geprägten Land mit doch recht gut ausgebauten Netzverbindungen bedeutet das allerdings, dass jeder Deutsche, der sich beruflich mit elektronischer Kommunikation auseinandersetzt, eine noch viel größere Menge zu bewältigen hat.

Wir sind aber nicht nur Empfänger, sondern auch Sender geworden. Mehrere Statistiken belegen, dass jeder US-Amerikaner im Jahr 1986 täglich Informationen ausgetauscht hat, die etwa dem Umfang von zwei Zeitungsseiten entsprechen. Heute sind es bereits über sechs Zeitungsseiten, Tendenz steigend. Und was die Kommunikation allgemein angeht: Man rechnet, dass sich die Menge aller kommunizierten Informationen innerhalb von drei Jahren verdoppelt – ein Ende ist vorläufig noch nicht absehbar.

Verzerrte Wahrnehmung dank Facebook und Instagram

Einen erklecklichen Teil dieser Informationsflut verdanken wir heute den sozialen Medien, die sich ja nicht nur aus den Massenmedien speisen, sondern jedem einzelnen ermöglichen, seine Botschaften in die Welt zu schicken. In dem Moment, in dem jede Privatperson zum Sender eines privaten Nachrichtenangebots wird, tritt allerdings die ganz normale Verzerrung ein, der besonders junge Menschen ausgesetzt sind, die die sozialen Medien viel intensiver nutzen als die älteren.

„Facebook und Instagram schaffen eine Wahrnehmung, laut der es allen besser geht – nur mir nicht. Wir sehen Fotos auf Instagram und Facebook, wie man gerade frisch mit der neuesten Liebe knutscht, wie man sich an einem schönen Strand bewegt oder gerade eine coole Aktion macht. Den Zoff mit den Eltern, den Stress mit dem Ausbildungsleiter, den posten wir ja nicht. Gehen wir aber unsere Timeline durch, haben wir das Gefühl: Alle haben einen Sixpack, alle verdienen mehr, fahren eine dicke Karre, nur ich bin die arme Sau, die noch bei ihren Eltern wohnt und nicht am Leben in der Intensität teilnimmt, wie es alle anderen machen. Das schafft natürlich eine Unzufriedenheit. Dadurch entsteht eine hohe Selbsterwartung: Was muss ich tun, um auch zu den Reichen und Schönen zu gehören?“ führt Schmiel aus.

Selbstgemachter Optimierungsdruck in der Freizeit

Auf diese Weise entsteht ein privater Optimierungsdruck, der sich auf verschiedene Bereiche des Lebens auswirkt. Top-Wohnung, Top-Ernährung, Top-Body. „Wenn man früher gestresst war, hat man gesagt: Komm, ich lasse mir die Badewanne volllaufen. Und heute: Da muss man sich fertig machen, um in die nächste Wellness-Oase zu fahren und dort ratzfatz noch drei Aufgüsse zu machen. Der Anspruch an die Freizeit ist deutlich gestiegen. Wenn mein Vater körperliche Ertüchtigung suchte, ist er mit meiner Mutter eine Runde spazieren gegangen. Heute ist das allgemeine Gefühl: Wenn du dich nicht auf den Marathon vorbereitest, bist du ein Schluffi.“

Teils scheinen wir allerdings auch gar nicht mehr Freizeit zu wollen. Oder wie würden Sie entscheiden, wenn Sie plötzlich einen zusätzlichen Feiertag bekommen könnten? In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur gaben lediglich 72 Prozent der Befragten an, dass sie gerne künftig den Reformationstag als bundesweiten jährlichen Feiertag hätten. 17 Prozent lehnten dies ab, 11 Prozent hatten keine Meinung dazu – auch wenn sich ja dadurch in Kombination mit Allerheiligen ein hübscher Kurzurlaub konstruieren ließe. In anderen Ländern Europas, so darf man mutmaßen, würden die Menschen wohl eher einem erhöhten Freitzeitangebot zustimmen.

Eine schwierige Allianz führt zu Dauerstress

Der Druck aus dem Privatbereich und jener aus dem Beruf ergänzen sich bei der Erzeugung von Dauerstress perfekt: So stellte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das für die Bundesagentur für Arbeit tätig ist, auch fest, dass die Deutschen im Jahr 2015 mehr als 1,8 Milliarden Überstunden geleistet haben – und mehr als die Hälfte davon unbezahlt. „Wir stellen häufig fest, dass die Arbeitsbelastung, die Intensität und Dauer der Arbeit bei den Beschäftigten tatsächlich zugenommen haben. Die eigentliche Falle besteht aber darin, dass wir verlernt haben, uns in unserer Freizeit zu entspannen“, berichtet Schmiel aus seiner Praxis.

Er zieht dazu den DAK Psychoreport 2015 heran, demzufolge sich die Zahl von Fehltagen aufgrund von psychischen Erkrankungen in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt hat.

Es trifft alleinerziehende Mütter besonders häufig

Es sieht also tatsächlich so aus, als hätten die Deutschen ein bisschen mehr Spaß und Freude dringend nötig. Besonders belastet sind dabei laut der eingangs zitierten GfK-Umfrage die Frauen. 58,4 Prozent gaben an, sich manchmal durch die Erwartungen anderer überfordert zu fühlen. Wobei zu diesem Ergebnis auch die klassischen Faktoren wie die Kindeserziehung beitragen, die nicht nur die alleinerziehenden Mütter stärker belastet.

Gibt es einen Ausweg aus der Misere, der ein wenig tiefer geht als die Empfehlung: Habt mehr Spaß? Rolf Schmiel plädiert für eine reflektierte Spaßgesellschaft, von der alle profitieren könnten.

Nicht alles so dogmatisch sehen!

Ein erster Schritt könnte sein, nicht immer alles gleich in dogmatische Programme zu verpacken. Wer einfach mal eine Zeit lang das Handy ausmachen wolle, müsse nicht gleich ein „digitales Fastenprogramm“ ausrufen. Wer beschließe, sich künftig gesünder zu ernähren, müsse nicht gleich zum Veganer werden. „Die Problematik, die ich als Psychologe sehe: Mit der Alltagssituation, mit der Normalität und dem Durchschnittlichen gibt sich keiner mehr zufrieden.“ Das täte uns aber in einigen Bereichen gut, damit nicht permanent Druck und Frust entsteht.

Auch die Verlagerung von Problemen und Konflikten auf Ersatzschauplätze funktioniere auf Dauer nicht. „Statt dafür zu sorgen, dass ich eine tatsächliche Lebensfreude empfinde, besuche ich unzählige Yoga-Kurse. Ich kann dann alles dehnen, aber meine Mundwinkel gehen trotzdem nicht nach oben. Weil ich mir tatsächlich nicht die wichtigen Lebensfragen stelle.“

Zunächst die wichtigen Lebensfragen stellen...

Und die besteht unter anderem in der Frage: Bin ich glücklich? Und was kann ich tun, um eventuell ein bisschen glücklicher zu werden? Die Lösung liegt oftmals ganz simpel in der Begegnung mit den Menschen in unserer Umgebung. „Es geht aus vielen psychologischen Studien hervor, dass echte Menschen der wichtigste Faktor für Glückserlebnisse in allen Bereichen sind. Wenn diese Begegnungskultur aber wegbricht, weil wir alle durch Arbeit und unsere mediale Nutzung überfordert sind, dann haben wir dadurch einfach keine Kraftquelle mehr.“

Er rät zu einem achtsameren Umgang mit den eigenen Bedürftigkeiten und einer Gelassenheit im Umgang mit der medialen Hysterie. Es muss nicht jeder zu jeder Zeit bei allen Kanälen dabei sein. Auszeiten sind wichtig.

Schmiel benutzt für sein Fazit ein simples Bild, das jedem Autofahrer einleuchtet: „Wer nicht auftankt, kann nicht lange Vollgas geben.“

  • Rolf Schmiel (43) ist über seinen Beruf als Diplom-Psychologe zum Motivationstrainer geworden. Er ist Autor mehrerer Motivationsratgeber, darunter „Senkrechtstarter – Wie aus Frust und Niederlagen die größten Erfolge entstehen“ (Campus, 228 Seiten, 24,99 €).
  • Ab dem 17. Februar 2017 ist er regelmäßig im Fernsehen zu erleben. In der Sendung „So tickt der Mensch“ auf Sat1 (20.15 Uhr) liefert er an der Seite von Moderatorin Ruth Moschner seine Experteneinschätzungen zu verhaltenspsychologischen Experimenten.