Recklinghausen. Das Theaterfestival entstand aus der Not heraus – im wahrsten Sinne des Wortes. Hamburg brauchte Heizkohle, das Revier bekam im Gegenzug Kultur.
„Kunst für Kohle“ lautete das Motto der ersten Ruhrfestspiele im Sommer 1947 – dank Hamburg. Mit einem Gastspiel revanchierte sich die Theaterszene der Hansestadt für das schwarze Gold der Zeche König Ludwig. Mit ihrer gefährlichen – und illegalen – Aktion retteten die Kumpel aus Recklinghausen die Kultur an der Elbe. Schon das erste Theaterfestival in Recklinghausen vereinte Menschen auf emotionale Art und tut es bis heute, der 77. Spielzeit vom 1. Mai bis 11. Juni.
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Ohne Otto Burrmeister, Verwaltungsdirektor des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, und Karl Rosengart, Betriebsratsvorsitzender der Hamburgischen Staatsoper, würde es die Ruhrfestspiele in Recklinghausen nicht geben. Denn hätten die wagemutigen Herren im Hungerwinter 1946/47 es nicht geschafft, die frostkalten Hamburger Theater mit Hilfe der Heinzkohle aus dem Ruhrgebiet vor der Pleite zu retten, würde das älteste und inzwischen eines der renommiertesten Theaterfestivals in Europa nicht Jahr für Jahr Zehntausende Menschen unterhalten, faszinieren und bereichern.
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Ein eiskalter und harter Winter
1946/47 war einer der härtesten Winter des 20. Jahrhunderts. Deutschland, nach dem Zweiten Weltkrieg in vier Besatzungszonen aufgeteilt, lag in Schutt und Asche. Die Menschen lebten in Trümmern. Die Temperaturen fielen bis auf minus 20 Grad Celsius. Lebensmittel gab es kaum und Heizmaterial ebenso wenig. Im Ruhrgebiet fehlten die Kumpel auf den Zechen. Viele Männer waren gefallen oder in Kriegsgefangenschaft. Dennoch wurde auf etlichen Pütts Kohle gefördert, wie auf König Ludwig Schacht 4/5 in Recklinghausen-Suderwich.
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Otto Burrmeister und Karl Rosengart waren mit zwei holzgasbetriebenen Lastwagen von der Elbe Richtung Ruhr aufgebrochen, wollten um Kohle für die Theater bitten. Dass sie zuerst auf König Ludwig stießen, war purer Zufall. Es war ein glücklicher Umstand, dass die Kumpel dort sofort bereit waren, den Theaterleuten zu helfen. Mehrmals wurden die Lkw illegal mit Kohle beladen, solange bis die Militärpolizei die Aktion beendete.
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„Recklinghausen statt Salzburg“
Im Sommer 1947 bedankten sich Künstler der Hamburgischen Staatsoper, des Philharmonischen Orchesters und des Thalia Theaters für die „Kohlehilfe“. Im Saalbau Recklinghausen wurden die Mozart-Oper „Figaros Hochzeit“ und das Lustspiel „Das verschlossene Haus“ von Michael Harward aufgeführt. Hamburgs Erster Bürgermeister Max Brauer sagte in seiner Festrede vor den Bergleuten: „Ja, Festspiele im Kohlenpott vor den Kumpels. Ja, Festspiele statt in Salzburg in Recklinghausen.“ Noch im selben Jahr gründeten die Stadt und der Deutsche Gewerkschaftsbund die Ruhrfestspiele Recklinghausen GmbH.
Die Ruhrfestspiele machten Karriere. Die Eintrittspreise blieben niedrig, damit jedermann sich Theater leisten konnte. 1965 wurde das moderne Ruhrfestspielhaus auf dem grünen Hügel des Stadtparks eingeweiht, wo seit 1977 am 1. Mai das sechswöchige Festival mit dem Kulturvolksfest eröffnet wird.
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Bitte keine Experimente
Zunächst standen klassisches Sprechtheater und Opern auf dem Spielplan. 1952 – Otto Burrmeister hatte die Leitung der Spiele bis 1965 inne – wurde erstmals Gegenwartstheater aufgeführt, das Programm um Konzerte, politische Veranstaltungen und Kunstausstellungen erweitert. Mit Frank Castorf schlitterten die Ruhrfestspiele in eine handfeste Krise. Experimentelles Theater – das fiel beim Publikum durch. Und der Chef auch. Ab 2004 brachte der Luxemburger Frank Hoffmann das Festival wieder auf Kurs, fand die passende Mischung zwischen Bewährtem und Neuem. Das Ziel, verschiedene Kunstformen, Sprachen und Kulturen zusammenzubringen, wurde deutlicher denn je. Freiluftkonzerte, großartige Inszenierungen im Festspielhaus, Auftritte weltbekannter Künstler und junger, aufstrebender Theaterleute machten die Ruhrfestspiele zu einem Kultur-Event ersten Ranges. 318 Aufführungen im Sommer 2012 und 81.000 Besucher im Sommer 2015 sind herausragende Rekorde. 2018 wurde Olaf Kröck die Intendanz übertragen.
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„Chapeau – Hut ab“ sagen die Kulturschaffenden zu den mutigen Hamburgern Burrmeister und Rosengart und den Kumpeln von König Ludwig 4/5. Als Zeichen der Freundschaft steht heute eine halbe Seilscheibe aus dem Ruhrgebiet vor dem Gewerkschaftshaus in Hamburg.
Aus: „Ruhrgebiet für Kenner, Wahres, Rares, Erstaunliches“ von Sylvia Lukassen und Rolf Kiesendahl. Ellert Richter Verlag Hamburg. 12 EuroInfos zum aktuellen Programm unter:www.ruhrfestspiele.de
Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei.Hier können Sie sich freischalten lassen. Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.