Dortmund. 15 Kilometer durch Tunnel, 19 Kilometer auf Stelzen – die Schnellbahn Köln-Duisburg-Dortmund sollte 1923 hochmodern sein. Es blieb beim Traum.
Der Dortmunder Hauptbahnhof an einem Dienstag im Herbst 2022. Es ist die erste Rushhour des Tages. Der Fahrplan ist Makulatur. Der ICE 618 nach Hamburg und Kiel hat 55 Minuten Verspätung. Grund dafür: „Die Reparatur einer Weiche“, sagt die Stimme aus dem Lautsprecher. Doch auch der Regionalexpress RE1 auf dem Nachbargleis ist mit 70 Minuten in Verzug. Die eine Verspätung hat mit der anderen zu tun: Im Ruhrgebiet muss der RE die Vorbeifahrt des ICE abwarten. Fernzug geht vor Regionalzug, und für den Regional- und Fernverkehr stehen hier insgesamt nur vier Gleise zur Verfügung. Denn die Wohnbebauung reicht teilweise bis an die Bahndämme.
Im Revier ist es einfach zu eng. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Wer ist schuld an den Schienen-Staus?
Tatsächlich hätte es besser laufen können. Vor 100 Jahren wurde eine zukunftsträchtige Idee geboren - und dann die entscheidende Weiche falsch gestellt. Engstirnige Bergbau-Bosse und Reichsbahn-Bürokraten haben in den 1920er-Jahren den ehrgeizigen Plan für eine in den Engpass-Stellen unterirdisch angelegte elektrische Schnellbahn ausgebremst, die im Viertelstundentakt Pendler quer durch das Rheinland und das Ruhrgebiet befördern sollte.
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Die Städte an Rhein und Ruhr wachsen
Die Idee dazu stammte aus den Ingenieurlabors der Elektrokonzerne Siemens, AEG und RWE. Vorbild waren die damals schon gut funktionierenden S-Bahn-Systeme von Hamburg und Berlin. Spuren der Auseinandersetzung über das Projekt sind in den Archiven zu finden. Die beeindruckenden Zukunftsplanungen der 1920er Jahre können in Bochum im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets verfolgt werden. Die Protokolle der wütenden Gutachter-Gefechte darüber sind im „Historical Institute“ des Siemens-Konzerns am Berliner Rohrdamm nachzulesen. Die Geschichte, die an beiden Orten erzählt wird, ist nicht nur spannend. Sie ist ein Lehrstück. Wir schreiben das Jahr 1922. Vielleicht ahnt der Essener Direktor Schiffer das drohende Debakel. Schiffer arbeitet für das Rheinisch Westfälische Elektrizitätswerk (RWE). Nach dem für Deutschland verlorenen Weltkrieg blüht die Weimarer Republik wirtschaftlich wieder etwas auf. Das Ruhrgebiet hat sich zum industriellen Herzen des Reiches entwickelt.
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Schon vor dem Krieg haben hier mehr Einwohner als in der Reichshauptstadt Berlin gelebt, die Zahlen sind zwischen 1861 und 1910 geradezu explodiert. Düsseldorf ist von 49.000 auf 358.000 Einwohner gewachsen, Duisburgs Zahlen haben sich alleine in den zehn Jahren zwischen 1900 und 1910 verdoppelt. Dortmunds Einwohnerschaft hat sich über 50 Jahre auf 212.000 verzehnfacht, die Gelsenkirchens von 5300 auf 168.300 sogar verzweiunddreißigfacht.
Die Folgen spürt der öffentliche Verkehr. Pendler stürmen die Bahnsteige, drängeln sich in den Abteilen. „Die Reichsbahn ist nicht in der Lage, den starren Fahrplan, der alleine eine reibungslose Abwicklung des großen Verkehrs ermöglichen kann, einzuführen. Hindernd steht der gemischte Betrieb entgegen, der Personen- und Güterzüge, Fern- und Nahzüge über dieselben Gleise leitet“, heißt es in einer Stellungnahme der Reformer, zu denen auch Schiffer gehört.
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Ihnen ist in Erinnerung, wie im Herbst 1912, noch vor dem 1. Weltkrieg, der Güterverkehr der Region total kollabierte. Das waren Wochen, in denen mancher Zugführer seine Lok im Chaos nicht mehr fand und andere für eine Strecke von 20 Kilometern eine Fahrzeit von 18 Stunden brauchten. RWE-Direktor Schiffer schreibt im Frühjahr 1922 einen Brief an den Kollegen Dust, den Vorsteher der Essener Niederlassung der Siemens-Bauunion. Darin bittet er um die „technischen Unterlagen für die Bearbeitung des Projekts“. Und ob man vielleicht gemeinsam...?
Rheinufer-Bahn als Vorbild
Siemens ist von der RWE-Anfrage angetan. Auch der Mülheimer Unternehmer Stinnes macht mit. Am 4. April trifft sich in den Berliner Geschäftsräumen der Siemens-Schuckert-Werke eine Fachgruppe. Auf dem Tisch liegt das revolutionäre Vorhaben der „Rheinisch-Westfälischen Städtebahn“: Sie soll von Köln nach Dortmund führen. Schon vor dem Krieg hatten Industrielle darüber nachgedacht, so etwas für einen Abschnitt Köln-Düsseldorf zu realisieren. Ein Vorbild fanden sie zudem in der seit 1906 rollenden Rheinufer-Bahn zwischen Köln und Bonn. Jetzt wollen sie es - auf eigene Rechnung und mit finanzieller Unterstützung der beteiligten Städte - in weit größerem Umfang versuchen. Mit einem hochmodernen Schnellbahn-Netz für die ganze Region.
Nahe dem Bochumer Tana-Schanzara-Platz finden wir im Keller des Hauses der Geschichte des Ruhrgebiets die Unterlagen. „Rheinisch-Westfälische Schnellbahn Entwurf August 1925“ steht über einem der fünf dicken Bände. Detailliert ist dort dargestellt, wie kühn die 113 Kilometer lange Hauptstrecke verlaufen sollte.
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Die Idee von Siemens, RWE, AEG und Verbündeten: Sechsteilige Elektrotriebwagen befahren die Strecke mit Halt in Düsseldorf, Duisburg, Mülheim, Essen, Gelsenkirchen, Bochum und Langendreer, zu Stoßzeiten sogar im Viertelstundentakt. Die eigens dafür angelegte Schnellbahn-Trasse führt über 77 Kilometer auf Dämmen, über 19 Kilometer auf fünf Meter hohen Stelzen und über 15,5 Kilometer in Tunneln unter den Innenstädten des Rhein-Ruhr-Gebiets hindurch. In Düsseldorf-Flehe wird eigens eine neue 900 Meter lange Rheinbrücke gebaut. Nicht nur City-Lagen werden unterquert, sondern auch der Duisburger Kaiserberg in einer 550 Meter langen Röhre. Kommunen wie Moers, Dinslaken, Oberhausen und Gladbeck werden über Zweiglinien angeschlossen. Duisburg mit gleich drei Bahnsteigen unter dem Vorplatz des Hauptbahnhofs wird zum zentralen Knoten und Standort des Betriebshofes.
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Atemberaubend kurz ist die angestrebte Fahrzeit: ganze 77 Minuten von Köln nach Dortmund. Das ist doppelt so schnell wie es die dampflokbespannten Züge der Reichsbahn hinbekommen. Sie brauchen 150 Minuten. Und es ist noch zwischen drei und zehn Minuten schneller als der Regionalexpress RRX hundert Jahre später sein wird.
Bergwerks-Barone schießen quer
Im März 1922 werden die Kosten für die Kernstrecke auf 214,9 Millionen Reichsmark geschätzt. Schon bald nach der acht Jahre später geplanten Betriebsaufnahme sollen schwarze Zahlen angepeilt werden. Am 9. Dezember 1922 treffen sich die neun Oberbürgermeister des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk in Köln. Ihnen liegen die Projektpläne vor. Sie sind begeistert. Einmütig stellen sie sich hinter die Idee.
1924. Noch scheint die Welt der Experten überzeugt: Die Städtebahn - jetzt heißt sie offiziell Schnellbahn - ist die Lösung. Doch man rechnet hin und her, Kosten- und Gewinnprognosen schwanken. Die hohen Zinsen der Inflationsjahre werden zur Hürde für die Finanzierung. Unter den beteiligten Industriellen kommt es zu einem ersten Streit. Dürfen die Züge nun Tempo 90 fahren, wie es Siemens favorisiert - oder doch bis zu 150, wie es sich der Mülheimer Stinnes vorstellte?
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Nach einigem Zögern erteilt das Reichsverkehrsministerium 1926 eine Konzession für die Hauptstrecke Köln-Dortmund. Die Konzession muss den Herren der Region, den Bergwerks-Baronen, auf den Magen geschlagen sein. Über die wahren Motive ihres immer heftigeren Widerstands kann es nur Spekulationen geben. Aber mit dem Austausch der Dampfloks gegen E-Triebwagen mussten sie um den Absatz ihres Produkts, der Kohle, fürchten - und das direkt vor den eigenen Zechentoren. In der Öffentlichkeit gestanden sie ihre eigentlichen Gründe nicht ein. Sie schickten das Oberbergamt Dortmund vor. Der Bau der Schnellbahn führe zu mehr Bergschäden, fand das Amt. Der Erdboden könne einbrechen, der Kohleabbau behindert werden. Deshalb: Nein.
Genau so von Konkurrenzängsten befallen wurde eine zweite mächtige Institution, die gerade erst gegründete Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft. Würden die schnellen Elektrozüge nicht die weit langsameren des Staatsbetriebs abhängen, ja, sie am Ende zwischen Rheinland und Westfalen leer dahinrollen lassen? Die Reichsbahn, die zunächst nicht abgeneigt schien, entpuppte sich als ein noch bissigerer Gegner. „Die Reichsbahn ist aus ihrer bisherigen abwartenden Stellung herausgetreten und nimmt offen eine feindliche Stellung gegen die Schnellbahn ein“, beobachtete der Krefelder Bahn-Experte Dr. Ing. Erwin Heisterbergk. Bergbau und Reichsbahn engagierten einen scharfzüngigen Gutachter, den Berliner Professor Giese, der als Beamter am S-Bahn-Netz der Hauptstadt entscheidend mitwirkte. Er verriss zunächst die Kosten- und Gewinnkalkulation der elektrizitätsnahen Industrie, um dann auf die möglichen wirtschaftlichen Folgen für die Reichsbahn zu verweisen und für den Straßenverkehr.
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Bergbau hatte die besseren Karten
Gieses fachlich ebenbürtiger Gegner auf Seite der Schnellbahn-Gruppe, Gustav Kemmann, konterte süffisant: „Die bequeme Fahrt in der Schnellbahn ist einer Kraftwagenfahrt durch die unzulänglichen Straßen des Ruhrgebiets bei weitem vorzuziehen“. Was sogar für manche heutigen Verkehrsteilnehmer nachvollziehbar klingt.
80 Gutachten, pro und contra, wechselten in den Jahren darauf zwischen den Schreibtischen von Behörden und Konzernen. Man schlug sich Zahlen und Daten über Verkehrsaufkommen und Erträge förmlich um die Ohren. Angriffe in diesem Gutachterkrieg zielten zuweilen ins Persönliche. So argwöhnten Schnellbahn-Befürworter im Westen, Giese vertrete doch nur Interessen der Reichshauptstadt und wolle, dass das Kapital an die Spree fließe - und nicht in die Rhein-Ruhr-Region. Kemmanns Stellungnahmen wurde in einschlägigen Fachzeitschriften einfach nicht abgedruckt.
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Bergbau und Reichsbahn hatten in diesem Spiel offenbar die besseren Karten. Ihre Abwehr, auch mit einem eigenen Modernisierungsplan des bestehenden Gleisnetzes mit Kosten unterhalb der für die Schnellbahn, ließ das gemeinsame Konzept von Siemens, AEG, RWE und der Oberbürgermeister scheitern. 1938 wurde die „Studiengesellschaft“ aufgelöst. Die Reichsbahner strickten in der Folge in eigener Regie ein Pendler-Netz - unter Dampf – der spätere Ruhrschnellverkehr.
Moderne elektrische Nahverkehrssysteme, wie sie in jenen Jahren in Metropolen wie Berlin und Hamburg als Grundlage für deren aktuelle Mobilität geschaffen wurden und die heute im Minutentakt Millionen befördern, sollte das Ruhrgebiet auf Jahrzehnte nicht erhalten - bis 1957 der erste elektrische Triebwagen zwischen Duisburg und Dortmund rollen durfte.
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