Essen/Oberhausen/Bochum. Vor 150 Jahren begann die große Zuwanderung aus dem Osten ins noch junge Ruhrgebiet. Ein spannender Blick auf Vergangenheit und Gegenwart.
Wer an die Anfänge der polnischen Geschichte im Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens gelangen will, der sollte nach Brauweiler fahren. Hier, im Rheinland, legte im Jahr 1048 Richeza, die Gemahlin des polnischen Königs Mieszko II., den Grundstein für eine Abteikirche. 24 Jahre zuvor hatten Richezas Eltern an gleicher Stelle bereits ein Benediktinerkloster gegründet. Bis heute wird die „polnische Königin aus dem Rheinland“, die im Jahr 1063 starb, von Gläubigen als Selige verehrt. Ihre Gebeine liegen im Kölner Dom.
Weit weniger als die knapp tausend Jahre der Zeiten Richezas liegen die Anfänge jener Zuwanderung zurück, deren Ausgangspunkt sich 2021 zum 150. Mal jährt: Die Gründung des Deutschen Reichs 1871 war auch die Initialzündung für eine Zuwanderungsbewegung aus Polen Richtung Westen, vor allem in das noch junge Ruhrgebiet, wo der expandierende Bergbau nach immer mehr Arbeitskräften verlangte. Zwischen 1871 und 1914 zogen mehr als eine halbe Million Menschen vor allem aus Posen, Schlesien und Masuren in das Industriegebiet an Rhein und Ruhr. „ So beschrieb der masurische Schriftsteller Ernst Wiechert den Exodus seiner Landsleute in das rheinisch-westfälische Industrierevier in seinem großen Masurenroman „Die Jerominkinder“: „Und aller Überfluß an jungen Söhnen, die kein Erbe empfangen hatten, verschwand in den westlichen Städten des Reiches, versank in den Bergwerken unter der Erde, vergaß die Wälder und Moore und bezahlte Lohn und Gewinn mit der Friedlosigkeit der im Dunklen Lebenden, mit der Zugehörigkeit zur Masse der Hadernden, die ihnen noch fremd blieb bis zur Todesstunde.“
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Viele brachten ihre Familien mit
Schon bald war von den „Ruhrpolen“ die Rede. Sie arbeiteten in den sogenannten „Polenzechen“ in Gelsenkirchen und Recklinghausen, in Essen und Herne oder Wattenscheid, wo sie über die Hälfte der Belegschaft stellten. Sehr plastisch zeigt sich die Entwicklung am Beispiel Bottrops: Zwischen 1875 und 1900 vervierfachte sich die Einwohnerzahl der Stadt auf mehr als 25.000. Rund 40 Prozent der Menschen waren polnischer, oberschlesischer, kaschubischer oder masurischer Herkunft. Die Polen arbeiteten größtenteils in den Bergwerken, unter Tage war Polnisch oft die vorherrschende Sprache. Ob in Essen, Bochum, Dortmund, Duisburg, Bottrop oder Herne – nahezu in allen Bereichen des Ruhrgebiets entstanden bald große polnische Arbeiterkolonien. Gelsenkirchen etwa wurde zum Ziel vieler Ostpreußen, während die Westpreußen besonders stark in Wattenscheid vertreten waren. Zuwanderer aus Posen siedelten sich vor allem in Bochum, Essen und Oberhausen an.
Viele dieser Zuwanderer brachten ihre Familien mit ins Ruhrgebiet. Andere wiederum holten sie später nach, als sie eine Arbeit gefunden hatten. Diese Entwicklung sollte sich viele Jahre später im Prinzip wiederholen – als in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts die sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei, aus Italien, Jugoslawien, Griechenland oder Spanien nach Deutschland kamen.
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Man lebte und heiratete unter sich
Nicht alle polnischen Arbeiter blieben zu Anfang lange in einer Stadt. Wo sie sich doch niederließen, schufen sie in vielen Städten schnell eigene Strukturen. Das gab ihnen einerseits Sicherheit und schuf zudem ein Netz sozialer Beziehungen. Die polnisch sprechenden, meist katholischen Bergarbeiter verlangten Gottesdienste in ihrer eigenen Sprache. Sie gründeten eigene Gewerkschaften, Sport-, Gesang- oder Frauenvereine, Sparkassen, und ihre eigenen sozialen Netzwerke, die sich von ihrer deutschsprachigen Umgebung absetzten. Man feierte, heiratete, lebte unter sich. Der erste polnische Verein im Ruhrgebiet war die 1877 gegründete Jednosc (Einheit). Somit blieben die Polen zumindest in der ersten Generation oft isoliert und ohne wirklichen Kontakt zur deutschen Bevölkerung (eine weitere Parallele zur späteren ersten „Gastarbeiter“-Generation).
Erst im Laufe der Jahrzehnte verwischten sich die Unterschiede zwischen der deutschstämmigen Bevölkerung und den polnischen Zuwanderern und deren Nachkommen. Allerdings kam es auch immer wieder zu Konflikten. Der Umgang der Behörden mit der in der Mehrheit katholischen Polen sowie die offizielle Regierungspolitik in dieser Frage, waren von anti-polnischen und anti-katholischen Vorurteilen geprägt, die auch von Teilen der einheimischen Bevölkerung geteilt wurden. Erklärtes Ziel der preußisch-deutschen Politik war die „Germanisierung“ der polnischen Zuwanderer, und nicht etwa deren Integration als eine eigenständige Bevölkerungsgruppe. Diese Ächtung ließ die Polen noch enger zusammenrücken.
Von der Politik wurden die Zuwanderer argwöhnisch beäugt. Das rechte politische Lager beschwor die Gefahr einer „Polonisierung“ durch die polnischen Landarbeiter. Und auch im linken politischen Lager gab es Vorbehalte. Die polnischen Arbeiter galten etwa bei ihren in Gewerkschaften organisierten deutschen Kollegen nicht selten als „Lohndrücker“ oder „Streikbrecher“. Diese Konfrontation wurde jedoch nach und nach entschärft, als immer mehr polnische Arbeiter in die deutschen Gewerkschaften eintraten – zumal die Polen in einigen Belegschaften ohnehin die Mehrheit bildeten.
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Viele gingen wieder zurück
Erst in den Jahren nach Ende des Ersten Weltkriegs fielen nach und die sozialen Grenzen und die bis dahin abgeschottete Community der „Ruhrpolen“ begann sich zu öffnen. Das lag allerdings auch daran, dass rund ein Drittel der polnischen Zuwanderer nach dem Krieg ihre „neue Heimat“ an der Ruhr wieder verließ. Sie gingen entweder nach Polen zurück oder zogen weiter nach Westen, nach Frankreich, Belgien oder in die Niederlande. Erst während des Nationalsozialismus wurden die polnischen Vereine und Verbände im Ruhrgebiet endgültig aufgelöst oder zerschlagen.
Heute kann man bilanzieren: Die Integration der Polen im Ruhrgebiet kann als gelungen bezeichnet werden, auch wenn – gerade in den Anfangsjahren des Zuzugs – große Probleme zu bewältigen waren. Ohne polnische Allround-Handwerker und Pflegerinnen (die berühmte „Polin“) würde der Alltag in Deutschland heute nicht funktionieren. Aber genauso gibt es Unternehmer, Anwälte, Gastwirte, Künstler polnischer Herkunft. „Polen sind aus Deutschland nicht wegzudenken“, schreibt der Historiker Peter Oliver Loew in seinem Buch „Geschichte der Polen in Deutschland“.
Eine besondere Rolle fällt sicher dem Fußball zu, und das nicht nur allein wegen des Ex-Dortmunders und heutigem Münchners Robert Lewandowski. Zahlreiche polnische Kicker haben den Teams von Schalke über Dortmund bis Köln ihren Stempel aufgedrückt. Als Lewandowski 2020 mit Bayern München die Champions League gewann, posierte er mit dem Cup für die Fotografen – und hielt dabei eine polnische Flagge über seinen Kopf. Ein Zeichen auch für das polnische Selbstbewusstsein der Polen in Deutschland.
Heute sind die Schimanskis, Kowalskis, Nowaks und Wojciks längst ein integraler – und integrierter – Teil der Gesellschaft an Rhein und Ruhr. Rund 600.000 Menschen mit polnischen Wurzeln leben heute in NRW. Aber richtig ist auch: „Polen und Polinnen in Deutschland sind die Unsichtbaren“, so Experte Loew. Und weiter: „Fast jeder kennt welche, in vielen Stammbäumen tauchen sie auf, aber kaum jemand weiß etwas über sie.“
Gdanska - Polens Botschaft im Ruhrgebiet
Von außen gleicht das Gdanska mitten im Herzen Oberhausens einer gewöhnlichen Kneipe, wo man zum Feierabend anstelle eines Stauder- oder Bergmann-Biers eben ein polnisches Tyskie trinkt. Gelangt man jedoch ins Innere des polnischen Lokals, offenbart sich eine bunte und verrückte Welt, fernab vom hektischen Treiben in der Stadt: Große Tische laden zum gemeinsamen Essen ein. An den Wänden hängt viel bunte polnische Deko, die der Besitzer Czeslaw Golebiewski sorgfältig ausgewählt und für alles einen passende Platz gefunden hat. Gegessen werden polnische Spezialitäten wie die „Mini-Pierogi a la Gdanska“, als Absacker gibt’s einen traditionell polnischen Wodka.
Aber der Laden ist mehr als ein Restaurant: „Das Gdanska ist ein Ort der Begegnung“, sagt Czeslaw Golebiewski. Regelmäßig finden hier Konzerte oder Lesungen mit Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt statt. „Denn durch Kunst können wir uns alle miteinander verständigen, egal, welche Sprache wir sprechen“, findet der 68-Jährige. Gemeinsam mit seiner Frau Maria (67) leitet er das Lokal schon seit 22 Jahren.
Geschichte auf dem Tablett serviert
„Als wir eröffneten, dachten wir, es würden nur polnische Gäste kommen“, erinnert sich der Inhaber. Doch schon nach ein paar Monaten suchten immer mehr Deutsche das Gdanska auf, auch, um mehr über die Kultur zu erfahren. „Am Anfang haben wir den Gästen immer ein Tablett serviert, auf dem die deutsch-polnische-Geschichte erklärt wurde.“ Gefreut habe er sich, sagt Czeslaw Golebiewski, als immer mehr Gäste daraufhin ihre eigene Geschichte erzählt hätten. Er bewundert ihren Mut, den seine eigenen Großeltern früher nicht gehabt hätten.
„Die polnische Geschichte ist viel von Unterdrückung geprägt, auch von den Deutschen“, sagt der Inhaber. Gerade ältere Generationen würden dieses Gefühl manchmal noch in sich tragen und nicht offen über ihre eigene Geschichte sprechen können, beobachtet Czeslaw Golebiewski. „Und auch ich habe lange gebraucht, um meine Identität zu finden.“
Die Theke ist wie eine Bühne
1990 ist er mit seiner Frau aus Polen nach Deutschland gekommen, hat dort anfangs als Taxifahrer gearbeitet. Wirklich angekommen, fühlte er sich nicht. „Doch jedes Mal, wenn ich abends in Kneipen unterwegs war, habe ich mich frei und gut gefühlt.“ Schließlich eröffnete er dann selbst eine. Czeslaw Golebiewski: „Die Theke ist wie eine Bühne für mich, auf der ich mit unterschiedlichen Leuten in Austausch kommen kann.“ Im „Gdanska“ gibt es auch eine kleine Theaterbühne „Theater G“, die auf eine eigene Produktion mit Stolz zurückblicken kann: „Emigranten“ von dem polnischen Schriftsteller Slawomir Mrozek.
Maciej Kowalski besucht regelmäßig das Gdanska. Der 41-Jährige ist in Koszalin, im Norden Polens geboren und aufgewachsen. Mit 28 Jahren ist er nach Deutschland ausgewandert und lebt seitdem in Düsseldorf. „Hier sind die Löhne besser“, sagt der Controlling-Spezialist. Schon in Polen hat er für eine deutsche Firma gearbeitet. In Düsseldorf belegte er einmal ein Management-Programm, knüpfte neue Kontakte und wollte bleiben.
Im Gdanska war er das erste Mal vor zwölf Jahren auf einem Konzert. Seitdem sammelt er dort jedes Jahr bei einer Weihnachts-Charity-Veranstaltung Geld für kranke Kinder in polnischen Krankenhäusern.
Denn auch wenn er sich in Deutschland sehr wohl fühlt, hat ihn sein Heimatland nie losgelassen. „Nach Deutschland zu kommen und meine Familie zu verlassen, war ein gewaltiger Schritt für mich“, erinnert sich Kowalski. „Und bisher hatte ich immer gedacht, dass man sich nur mit einer Kultur verbunden fühlen kann. Jetzt weiß, ich dass das nicht so ist und ich mich in beiden Ländern Zuhause fühle.“ Interkulturelle Treffpunkte wie das Gdanska haben ihm dabei geholfen. „Dort ist es ähnlich wie in einer polnischen kulturellen Botschaft.“
„Wir müssen unsere Geschichte erzählen“
Emanuela Danielewicz kam 1981 als Zehnjährige mit ihren Eltern aus dem polnischen Poznan nach Berlin. 1992 zog sie ins Ruhrgebiet, zunächst nach Essen, dann nach Bochum, wo sie seit nunmehr fast 20 Jahren als Fotografin arbeitet. Hier gründete sie 2008 den Verein „Kosmopolen“, der deutsch-polnische Kulturveranstaltungen organisierte. Im September 2020 gehörte sie zu den Gründern der deutsch-polnischen Gesellschaft in Bochum NRW, „Bochumski“ genannt. Zurzeit bereitet sie die Porträtserie „Morgen mehr über Gestern“ für eine Ausstellung vor.
Frau Danielewicz, Sie engagieren sich seit vielen Jahren für polnische Kultur in Bochum und im Ruhrgebiet. Was ist Ihre Triebfeder?
Emanuela Danielewicz: Es gibt ganz klar zu wenig für polnische Kultur in Deutschland. Die Polen leben leise ihre Kultur, sind nicht sichtbar genug. Aber wir haben etwas wesentliches zu sagen und müssen unsere Geschichte erzählen. Das geht am besten eben über Kultur, also über Lesungen, Konzerte, Ausstellungen aber auch Forschung oder Schüleraustausch. Ich kenne viele Leute hier, Polen und Deutsche, bin also gut vernetzt. Als Freunde mich aufforderten, „Mach du doch mal!“, hab’ ich zögerlich losgelegt.
Woran liegt es, dass die polnische Kultur im Ruhrgebiet so wenig erkennbar ist?
Es fehlt an vielen Orten an Strukturen, die Kulturelles vordenken und organisieren können. Und das in einer Gegend, wo Tausende Menschen mit polnischen Wurzeln leben. Aber es gehört eben viel Einsatz und Engagement dazu, die Strukturen aufzubauen, das gemeinsame Engagement zu pflegen, Förderer zu finden. Die Zusammenarbeit mit Verbänden und Behörden ist nicht immer leicht. Das ist nicht jedermanns Sache. Und es besteht die Gefahr, dass man vereinnahmt wird, etwa von politischer Seite, aber wenn es gemeinsamen Konsens gibt, bewährt sich die Win-Win-Strategie. Ich habe bei meiner Arbeit für den Künstlerverein „Kosmopolen“ erfahren und studieren dürfen, wie groß das Interesse an Polen heute und gestern, an polnischer Kultur bei der Bevölkerung ist. Unsere Veranstaltungen hatten enormes Interesse und wachsenden Zulauf, eine Erfahrung, die wir nicht so vorausahnen konnten. Die dpg bochum nrw e.V. ist besser aufgestellt.
Es geht Ihnen letztlich aber um mehr als schöne Konzerte und Ausstellungen.
Natürlich. Es geht um Austausch, um Treffen, um miteinander ins Gespräch kommen. Es geht mir um die Idee Europa. Da gibt es so viel Gemeinsames und Wichtiges. Wir müssen über den Dialog zum schwierigen Thema Europa und zueinander finden. Und man kann im Ruhrgebiet keine europäische Kulturarbeit machen ohne die Polen. Der polnische Akzent ist in dieser Region unverzichtbar. Das ist mein Ansatz. Und deshalb nehmen wir zum Beispiel mit dem „Bochumski“-Fest oder NEW POLISHed TUNES, frei übersetzt „polierte Töne“, einen neuen Anlauf. Wir stehen in sehr gutem Austausch etwa mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem Haus der Geschichte des Ruhrgebietes und der Ruhr-Uni Bochum sowie dem zweisprachigem Medium Dialog Magazin.
Sie selbst kamen mit Ihren Eltern aus Poznan nach Berlin, später zogen Sie ins Ruhrgebiet. Wie haben Sie Deutschland erlebt?
Als ich mit zehn Jahren nach Deutschland kam, da hing ich schon ziemlich zwischen den Welten. Ich musste mich in einem fremden Land in West-Berlin zurechtfinden. Als mich gerade integriert hatte, fiel die Mauer vor unserer Haustür nahe dem Anhalter Bahnhof und Deutschland wurde ein ganz anderes Land. Damit veränderte sich wieder auch meine Weltsicht. Ich fühlte mich schon kulturell und sprachlich oft sehr verloren. Hier in Bochum fand ich ein interkulturelles Umfeld, das meinen Horizont zum Leben hin erweiterte und meine selbstständige und künstlerische Seite leben lässt. Von hier aus gehe ich auf Erkundungen und das Deutsch-Polnische führt mich auf Umwegen zum Europäer-Sein.
Das heißt?
Mein Urgroßvater arbeitete hier, mein Großvater mütterlicherseits wurde sogar in Bochum geboren. Und meine Großmutter väterlicherseits war eine in die polnische Kultur integrierte Deutsche. Das alles habe ich aber erst vor ein paar Jahren erfahren, ich hatte lange keine Ahnung davon, weil Gespräche darüber und Familientreffen mit den Großeltern fehlten. Daher meine Neigung, mich mit Polen, Deutschland und dem europäischen Kosmos mehr zu beschäftigen. Da schließt sich ein Kreis. Unglaublich, oder?
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