Essen. Wer ein Pflegekind bei sich aufnehmen möchte, muss Vieles beachten. Zwei Expertinnen vom Essener Jugendamt geben wichtige Tipps.
Wenn Kinder bei ihren leiblichen Eltern nicht (mehr) leben können, werden sie vom Jugendamt in Obhut genommen. In der Stadt Essen kam es dazu im Jahr 2021 zum Beispiel ganze 559-mal, in 79 Fällen waren die Kinder im Alter von null bis drei Jahren. Was folgt, ist die zeitweise Unterbringung in einem Kinderheim oder einer Bereitschaftspflegefamilie. Wie finden diese Kinder langfristig ein Zuhause und eine Familie, in der sie gut aufgehoben sind?
Darüber hat Michelle Kox mit Ute Arens, Fachgruppenleiterin des Pflegekinderdienstes und Adoptionsvermittlung der Stadt Essen, und Susanne Schreinert, Leiterin der sozialen Dienste bei der Stadt Essen, gesprochen.
Wie landen die Kinder bei Ihnen?
Schreinert: In wenigen Fällen melden sich die Eltern bei uns, weil sie selbst bemerken, dass sie es nicht mehr schaffen für das Kind zu sorgen. In den meisten Fällen werden wir darauf aufmerksam, dass es Kindern nicht gut geht und eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Wenn Eltern dann nicht bereit sind, Hilfen anzunehmen oder ihren Umgang mit den Kindern zu verändern, nimmt der Allgemeine Sozialdienst die Kinder in Obhut und schaltet das Familiengericht ein. Bis entschieden ist, ob die Kinder in einer Adoptions- oder Pflegefamilie leben sollen, kommen sie in einer Bereitschaftspflegefamilie oder im Kinderheim unter.
Was unterscheidet eine Pflegefamilie von einer Adoptivfamilie?
Arens: In erster Linie gibt es rechtliche Unterschiede. Bei Pflegekindern liegt das Sorgerecht in der Regel noch bei den leiblichen Eltern oder einem Vormund. Sie haben im Grunde zwei Familien: Die Pflegefamilie, bei der das Kind hauptsächlich wohnt, und ihre Herkunftsfamilie, die auch weiterhin das Recht darauf hat, das Kind zu sehen. Nach einer erfolgten Adoption sind hingegen die vorherigen Verwandtschaftsverhältnisse gesetzlich aufgelöst. Heißt: Das Kind lebt in der Regel ausschließlich in der Adoptivfamilie. Für sie hat es die gleiche rechtliche Stellung wie ein leibliches Kind, und zwar mit allem, was dazugehört: Unterhaltspflicht, Erbrecht und so weiter.
Wie entscheidet sich, ob ein Kind in ein Pflege- oder Adoptionsverhältnis kommt?
Schreinert: Im besten Fall entscheidet man danach, was die richtige Perspektive für das Kind wäre. Einer Adoption müssen die leiblichen Eltern jedoch zustimmen. Nur, wenn sie nicht mehr da sind, oder in absoluten Härtefällen kann die Zustimmung durch ein Gericht ersetzt werden. Wenn Eltern ihr Kind nicht zur Adoption freigeben möchten, aber trotzdem nicht dazu fähig sind, es angemessen zu versorgen, können sie häufig eher einem Pflegeverhältnis zustimmen. Am Ende ist es eine gemeinsame Entscheidung der Eltern und des Jugendamtes.
Wann greifen sie als Jugendamt ein und nehmen Kinder in Obhut?
Arens: Die Gründe für eine Inobhutnahme sind vielschichtig. Akute Überforderungssituationen in der Familie können unterschiedliche Hintergründe haben. Manchmal gibt es psychische Erkrankungen oder Drogen- beziehungsweise Alkoholabhängigkeit bei den Eltern. Häufig kommt es dann zu Gewalt innerhalb der Familie. Manchmal kommt noch erschwerend hinzu, dass das Kind eine Krankheit oder Behinderung hat und ein Leben lang besondere Unterstützung braucht, welche die leiblichen Eltern nicht leisten können.
Pflege- oder Adoptiveltern müssen diese Unterstützung allerdings schon leisten. Welche Voraussetzungen müssen sie erfüllen, um ein Kind aufzunehmen?
Arens: Wir suchen nicht das passende Kind für Pflege- oder Adoptiveltern, sondern die passende Pflege- oder Adoptivfamilie für das individuelle Kind. Voraussetzungen, die immer erfüllt werden müssen: Man darf nicht vorbestraft sein und man muss gesundheitlich in der Lage sein können, ein Kind bis zur Verselbstständigung zu versorgen und zu erziehen – sowohl körperlich als auch psychisch. Dann wird über einen längeren Zeitraum geschaut, welche Motivation dahintersteckt, ein Kind aufzunehmen und welchem unserer Kinder sie gerecht werden könnten.
Essener Jugendamt erklärt: So wird man zu Pflege-Eltern
Wie läuft das Verfahren dann genau ab?
Schreinert: In jedem Verwaltungsbezirk gibt es eine Bezirksstelle, die man sich wie ein kleines Jugendamt vorstellen kann und an die sich interessierte Eltern wenden können. Dort sitzt der Allgemeine Sozialdienst, der für die Herkunftsfamilien in dem jeweiligen Bezirk zuständig ist und der Pflegekinderdienst, der für die Pflegefamilien zuständig ist. Als Erstes wird eine formale Überprüfung durchgeführt. Es muss ein aktuelles Führungszeugnis und ein Gesundheitszeugnis vorgezeigt werden. Dann erfolgt in vielen Gesprächen die Überprüfung der pädagogischen Eignung. Parallel bekommt man jede Menge Informationen von uns. Es ist sehr wichtig, dass die Menschen gut vorbereitet sind und wissen, auf was sie sich einlassen. Sie können jederzeit zurücktreten. Wir können aber auch feststellen, dass jemand nicht geeignet ist, ein Kind aufzunehmen.
Sie sagten, dass Eltern „wissen müssen, worauf sie sich einlassen“. Wie meinen Sie das?
Schreinert: Jedes Kind hat sein Päckchen zu tragen, sie werden ja nicht ohne Grund aus den Familien rausgenommen. Dann kommen oft Paare zu uns, die einen unerfüllten Kinderwunsch haben. Sie müssen sich im Klaren darüber sein, dass ein Pflegekind nicht unbedingt mit einem leiblichen Kind gleichzusetzen ist. Es gibt noch eine Herkunftsfamilie im Hintergrund, die immer eine Rolle spielen wird. Wir wollen auf keinen Fall, dass Familien an einem Pflegekind zerbrechen, deshalb ist die intensive Vorbereitung enorm wichtig.
Wie lange dauert dieser Vorbereitungsprozess?
Schreinert: Das ist ganz unterschiedlich. Eine Kollegin hat mal gesagt: im Schnitt so lange wie eine Schwangerschaft, es kann aber auch länger oder kürzer sein. Am Ende dieser Vorbereitung steht noch ein Seminar an, in der mehrere Pflegefamilien zusammenkommen. Das ist für die Familien sehr spannend, weil sie andere Menschen kennenlernen, die sich in der gleichen Situation befinden.
Arens: Die Pflege- und Adoptivfamilien werden aber auch anschließend weiterhin beraten und unterstützt. Adoptivfamilien können, aber müssen das nicht in Anspruch nehmen. Für Pflegefamilien ist die Begleitung verpflichtend. Es finden regelmäßig Hilfeplangespräche statt, bei denen alle Beteiligten zusammenkommen: der Pflegekinderdienst, die Pflegefamilie, der allgemeine Sozialdienst, die leiblichen Eltern und der Vormund, falls es einen gibt.
Als werdende Pflege- oder Adoptiveltern kann man angeben, dass man sich nicht in der Lage sieht, ein Kind mit Behinderung aufzunehmen. Trotzdem kam es schon vor, dass beeinträchtigte Kinder als gesund vermittelt wurden. Wie kann das sein?
Schreinert:Jedes Kind ist eine Wundertüte und wir vermitteln unseren Pflege- und Adoptionsfamilien im Vorfeld ganz klar, dass sowas nie auszuschließen ist. Wir tun unser Möglichstes, viel über die Kinder herauszufinden und eine genaue Diagnose zu stellen. Doch gerade Behinderungen wie FASD (Fetale Alkoholspektrumstörung) machen sich oft erst später bemerkbar und auch andere Krankheiten kann man medizinisch nicht immer von Geburt an feststellen.
Arens: Selbst bei den Kindern, von denen wir die Herkunftsfamilien kennen, erhalten wir nicht immer alle Informationen. Nun stellen sie sich vor, das Kind kommt aus der Babyklappe – bei uns nur in absoluten Ausnahmefällen – da wissen Sie gar nichts über die Herkunft des Kindes. Ich hatte mal eine Familie, in die ich ein Pflegekind vermittelt habe, als es noch sehr klein war. Ein paar Jahre später stellte sich heraus, dass es geistig behindert war. Das wussten wir nicht und die Eltern waren erst richtig sauer, haben sich aber nach einem langen Prozess für dieses Kind entschieden. Heute sind sie glücklich darüber.
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