Herne. Vom Weltunternehmen zum Kulturzentrum: Die Flottmann-Hallen in Herne haben den Wandel geschafft. Doch die Erfolgsstory hat einen Haken.
Wer im Ruhrgebiet der 80er- und 90er-Jahre aufgewachsen ist und sich ein bisschen für alternative Kultur interessiert hat, kennt sie, die Flottmann-Hallen. Flottmann, das ist der Laden, wo Willi Thomczyk mit seinem Theater Kohlenpott spektakuläre Vorstellungen gab – und wo seine Nachfolger bis heute ihre Stammbühne haben. Flottmann, das ist der Laden, in dem so ziemlich jeder Kabarettist und Kleinkünstler, der im Ruhrgebiet gewitzelt hat, schon Station gemacht hat. Hennes Bender, Thorsten Sträter, Fritz Eckenga, eine tolle Kleinkunstbühne.
Musik gibt’s auch. Zudem Kunstausstellungen und einen Skulpturenpark. Janina Scholtzek, neue Leiterin für die darstellenden Künste, ergänzt: „Wir haben Urban Arts mit Pottporus dabei und machen verstärkt den Neuen Zirkus.“ Das alles in einem sehr schönen, ehemaligen Industriegebäude, bei dem auf den ersten Blick nur die Adresse darauf deutet, was Flottmann groß gemacht hat: „Straße des Bohrhammers“.
Wie Flottmann aus Herne zur Weltfirma wurde
Denn Flottmann war einst nicht nur laut Selbstbejubelung eine „Weltfirma“, Zweigniederlassungen und Filialen hatten die Herner in Brüssel, Budapest, Cardiff, Lüttich, Madrid, Mailand, Paris, Prag, Wien und Zürich. Nicht zu vergessen, dass es für die Goldminen Südafrikas eine Filiale in Johannesburg gab – schon vor dem Ersten Weltkrieg.
Das im Jahr 1872 von Friedrich Heinrich Flottmann (1844-1899) als Gelbgießerei in Bochum gegründete Unternehmen zog 1902 in die Herner Vöde, die damals „wüst und menschenleer“ war, wie ein Zeitzeuge im Ausstellungskatalog „Flottmann: Eine Geschichte des Reviers“ von Ralf Piorr (Klartext, 2015) berichtet. Von da an war es nicht mehr lang, bis Sohn Heinrich Flottmann (1875-1944) auf seine zündende Idee kam: den „Druckluft-Bohrhammer mit Kugelsteuerung und selbsttätiger Umsetzung“, 1904 patentiert.
Das Gerät stellte eine wahre Revolution im Bergbau dar, nicht nur in den Flözen an der Ruhr. Es löste die bis dahin gebräuchlichen Schlägel und Eisen ab, die das Wahrzeichen für den Bergbau schlechthin sind. Die Firma expandierte, weil solch ein „Ding mit dem Dingelchen“, wie die Flottmänner den Bohrhammer nannten, überall gebraucht werden konnte, die Kombination von Druckluft und Kugel im Bohrhammer erhöhten Tempo und Arbeitsleistung rasant.
Gute Löhne, faire Arbeitszeiten bei Flottmann in Herne
Unter Heinrich expandierten die Flottmann-Werke, im Jahr 1929 wurde mit 270 Angestellten und 1250 Arbeitern ein Beschäftigungshöchststand erreicht. Heinrich pflegte ein sozial-patriarchisches Verhältnis zu den Arbeitern, führte 1909 die „englische Arbeitszeit“ von neun Stunden pro Tag ein, zahlte gute Löhne. Die Flottmänner galten dank freiwilliger sozialer Leistungen und Freizeitangeboten als eingeschworene Familie. Flottmann war nie so groß wie Krupp, aber in Sachen Identifikation konnten Flottmänner und Kruppianer miteinander konkurrieren.
Heinrich Flottmann brachte seine Firma souverän durch den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise – ein guter Unternehmer also, könnte man meinen. Doch das finsterste Kapitel der Firmengeschichte stand noch bevor – und Heinrich steuerte mutwillig hinein: Er gehörte zu den glühenden Verehrern Hitlers.
Schon im Oktober 1931 traten Heinrich, sein Sohn Friedrich Heinrich sowie führende Firmenmitglieder in die NSDAP ein. Flottmänner marschierten bei Parteiaufmärschen mit, das Werk galt als Nazi-Hochburg, die eigene Musikkapelle trommelte unter dem Hakenkreuz. „Flottmann hat versucht, ein mustergültiger Parteibetrieb zu werden“, sagt auch Janina Scholtzek.
Heinrich wurde 1933 im Rahmen der Gleichschaltung zum Präsidenten der Industrie- und Handelskammer Bochum ernannt. Als er 1937 den Spatenstich für eine Werkssiedlung tat, ging es nicht ohne Parteipräsenz. Noch schlimmer: Während des Arbeitskräftemangels im Zweiten Weltkrieg 1942 wurden 300 Zwangsarbeiter eingesetzt, hauptsächlich aus Osteuropa.
Heinrich starb 1944. Seinem Sohn Friedrich Heinrich gelang in einem langen Verfahren eine offizielle Entnazifizierung. Die Familie lastete dem verstorbenen Heinrich die unrühmliche Nazi-Vergangenheit an. Dieses Kapitel wurde auch gleich aus der Firmenhistorie getilgt – dank massiver Öffentlichkeitsarbeit. So war es Flottmann nach 1949 möglich, das Wirtschaftswunder mit voller Wucht mitzunehmen – bis sich ab 1958 die Bergbaukrise abzeichnete.
Flottmann-Werke wurden in Herne zum Politikum
Von da an ging’s bergab, Ende der 60er-Jahre sprach man vom „sinkenden Schiff“, Friedrich Heinrich Flottmann gelang es nicht, sich vom dahinsiechenden Bergbau zu lösen. 1977 war die Belegschaft auf 140 geschrumpft, Friedrich Heinrich zog sich zurück, das Ende der Familienära. 1983 verließen dann auch die Nachfolger das alte Gelände.
Das nun brachliegende Areal gehörte damals schon der Stadt Herne und wurde zum Politikum. Das Verwaltungsgebäude konnte 1984 in letzter Sekunde durch Intervention des Denkmalschutzes gerettet werden: „Kurz bevor die Abrissbirne schwang“, sagt Janina Scholtzek. So wurden das fünfschiffige Jugendstil-Ensemble mit Ausstellungs- und Versandhalle, die Schmiede und die Schlosserei gerettet – und 1986 unter städtischer Trägerschaft als Kulturzentrum wiedereröffnet.
Seit 2015 erinnert eine Dauerausstellung hier an die Vergangenheit des Ortes. Und auch wenn der Mythos der Flottmann-Bohrhämmer verblasst ist, ein Echo rattert nach, weiß Janina Scholtzek: „Das letzte Mal wurde noch vor fünf Jahren im Haus nach Bohrspitzen als Ersatzteile für Bohrhämmer nachgefragt.“ An die Stelle des alten ist ein neuer Mythos getreten, der von den „Flottmann-Hallen“, die die kulturelle Vielfalt des Ruhrgebiets nachhaltig bereichert haben – und es immer noch tun.
Weitere Texte aus dem Ressort Wochenende finden Sie hier:
- Psychologie: Warum sich Mädchen komplett überfordert fühlen
- Migration: Wie ein pensionierter Polizist im Problemviertel aufräumt
- Essener Roma-Familie über Klischee: „Wir sind keine Bettler“
- Familie: Hilfe, mein Kind beißt, schlägt, tritt andere!
- Generation Pause: „Man genießt, nicht den Druck zu haben“