Mülheim/Köln. Donata (35) sah als Siebenjährige mit an, wie ihr Vater ihre Mutter in einem Mülheimer Parkhaus erschoss. Wie sie das bis heute prägt.
Wenn die Flashbacks kommen, ist Donata A. wieder das kleine Mädchen, sieben Jahre alt, das in einer Tiefgarage Unfassbares erlebt. Dann sind die Schmerzen, die Panik, das tiefe Entsetzen plötzlich wieder da. „Als wäre man in diesem Moment dort“, sagt die 35-Jährige, „und würde alles im Detail noch einmal durchleben. Es fühlt sich genauso schlimm an, wie es damals war. Je nach Schwere des Flashbacks kann ich anschließend mehrere Tage lang nicht normal am Leben teilnehmen.“
In welchen Situationen die Erinnerung einschlägt und sie niederschmettert, kann die junge Frau nicht sagen. Sicher, es gebe bestimmte Trigger – „ich muss mir keinen zweistündigen Ballerfilm anschauen“. Doch es sei nicht vorhersehbar, es könne in jeder beliebigen Situation passieren.
Vater erschoss Mutter in einem Mülheimer Parkhaus
Donata A. ist eine Überlebende. Sie und ihre zwei Jahre jüngere Schwester mussten mit ansehen, wie der Vater die Mutter in einem Mülheimer Parkhaus mit einer Pistole erschoss. Der Vater versuchte auch, seine Kinder umzubringen, er schoss insgesamt sieben Mal auf die kleinen Mädchen. Donata und ihre Schwester wurden lebensgefährlich verletzt. Der Vater tötete sich durch einen Schuss in den Mund.
Die Gewalttat geschah am 25. Januar 1995, gegen 20 Uhr abends. Donata A., die heute mit ihrer Familie in Köln lebt, ist danach gelegentlich am Tatort gewesen. Im Parkhaus am Einkaufszentrum Forum in der Mülheimer City. Sie konnte durch die Garage gehen, ohne einen Flashback zu erleiden. Dafür traf der Horror sie in anderen, harmlos wirkenden Situationen.
„Es war ein großes Wunder, dass wir überhaupt überlebt haben“
Folgen der Schussverletzungen, die auch innere Organe geschädigt haben, beeinträchtigen Donata A. und ihre Schwester bis heute. Über Details möchte sie nicht sprechen, sagt nur: „Es war ein großes Wunder, dass wir mit derartig schweren Verletzungen überhaupt überlebt haben.“ Und die Frauen leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die die 35-Jährige seit einiger Zeit mit einer Therapeutin bearbeitet. „Ich hatte große Heilungserfolge.“ Doch es ist harte Arbeit.
Donata A., die selber publizistisch arbeitet, fühlt sich jetzt stark genug, ihre Erlebnisse öffentlich zu machen. Sie hat zum Gespräch in ihre Kölner Altbauwohnung eingeladen, nicht um Einzelheiten der Gewalttat und ihres Lebenswegs auszubreiten, sondern um Erkenntnisse zu teilen und aus Betroffenensicht wichtige Dinge richtig zu stellen.
Vor allem dies: Was ihr Vater getan hat, war ein „Femizid“ (auch der Begriff „Feminizid“ wird in diesem Zusammenhang verwendet). Das bedeutet: Eine Frau wird durch einen Mann getötet, weil sie eine Frau ist. Es war keine „Familientragödie“, kein „Eifersuchtsdrama“, kein „Ehrenmord“.
Die 35-Jährige meint: „Solche Gewalttaten haben System innerhalb patriarchaler Gesellschaften, also weltweit.“ Auch in Deutschland, wo statistisch gesehen an jedem dritten Tag ein Mann eine ihm nahestehende Frau tötet. Oft aus Eifersucht, Besitzdenken. Donata A. ist zur Aktivistin geworden, sie sagt: „Ich bin eine, die einen versuchten Femizid überlebt hat. Meine Mutter hatte weniger Glück.“
Dass Medien mit ihrer Berichterstattung oft zur Verharmlosung beitragen, indem sie Femizide als persönliches Einzelschicksal darstellen, als Drama, bei dem sich eine hochemotionale Situation hochschaukelt, dass sie gar Verständnis für die Motive des Gewalttäters durchscheinen lassen – all das trifft und empört die junge Frau.
„Freundin fand neue Liebe: Tragödie in der Tiefgarage“
Dabei löst sie sich auch von ihrem eigenen Fall und bezieht sich auf Auswertungen, wie sie etwa der Verein Gender Equality Media e.V. (GEM) vornimmt, der sich laut eigener Website dem Kampf gegen Sexismus in der journalistischen Berichterstattung widmet. So wurden für 2021 nach Angaben von GEM Berichte über Gewalt gegen Frauen in mehr als 260 Medien über Google News untersucht. Der Begriff Feminizid sei kein einziges Mal verwendet worden, vielmehr ergab sich eine „Top-Drei der gewaltverharmlosenden Sprache“, wie die Aktivistinnen schreiben: „Bluttat“, „Beziehungstat“, „Familiendrama“.
Erst seit wenigen Monaten kennt Donata A. den Zeitungsbericht von 1995, in dem die Tat, die ihre Familie zerstörte, beschrieben ist. Die Überschrift lautete: „Freundin fand neue Liebe: Tragödie in der Tiefgarage“. Im Artikel ist beschrieben, dass die Mutter eine nach Polizeiangaben „konfliktreiche Beziehung“ nach zehn Jahren beendet und einen neuen Partner gefunden hatte.
Erst wenige Wochen vor der Gewalttat war der Vater aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Man habe sich zu einer Aussprache treffen wolle. „Neue Liebe … Tragödie“. Donata A. sagt: „Das ist sehr verletzend. Aber keine Überraschung.“ Und sie ist sicher: „Der Artikel könnte auch heute noch genauso erscheinen.“
Mülheimerin verbringt Jahre im Schockzustand
Mehr als 28 Jahre liegt die Tat nun zurück. Donata A. und ihre Schwester wurden in einer Pflegefamilie untergebracht, als 14-Jährige zog sie um in eine Mädchenwohngruppe. Psychologische Unterstützung hätten sie sehr lange nicht bekommen, sagt Donata A., man habe den Mädchen ja nicht angemerkt, wie schwer sie traumatisiert sind, oder man habe nicht genau hingesehen.
„Wir sind intelligent und resilient, wir waren unauffällig, gute Schülerinnen, hatten Freundschaften. Dass wir uns viele Jahre in einer Art Schockzustand befunden haben, nur funktioniert haben, darauf ist offenbar niemand gekommen.“
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Bis es nicht mehr ging. Sie sei während ihres Bachelorstudiums plötzlich schwer depressiv geworden, berichtet Donata A., und habe eine Therapie begonnen, die für ihr Leben sehr wichtig geworden sei. Seit rund zwei Jahren kämpfen sie und ihre Schwester, die in Dänemark lebt, auch für finanzielle Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz: Von Gewalttaten Betroffene können Leistungen erhalten, um die gesundheitlichen Folgen auszugleichen.
Mehr Präventionsarbeit, mehr Plätze in Frauenhäusern
Die Schwestern möchten erwirken, dass auch ihre psychischen Folgeschäden anerkannt werden. Donata A. nennt es „ein quälendes Verfahren“, das alte Wunden wieder aufgerissen habe. Der Bescheid kam um die Jahreswende. Letztlich sei ihr Antrag bewilligt worden, der ihrer Schwester, in der Zuständigkeit eines anderen Landschaftsverbandes, jedoch nicht. Dabei gehe es der Schwester bedeutend schlechter.
Trotz allem: Donata A. möchte nach vorne blicken und mit ihrer Stimme dafür sorgen, dass sich etwas ändert. Dass Femizide auch als solche bezeichnet werden. Dass mehr Präventionsprogramme aufgelegt werden, damit Männer gar nicht erst zu Tätern werden. Dass schon kleine Kinder aufgeklärt und aufgefangen werden: Es ist nicht okay, zu Hause geschlagen zu werden. Dass viel mehr Plätze in Frauenhäusern geschaffen werden und mehr bezahlbarer Wohnraum für Frauen, die sich von ihren gewalttätigen Männern trennen wollen.
Die 35-Jährige erzählt noch von einem sehr persönlichen Projekt: Sie arbeite an einem „autofiktionalen Roman“, der sich um ihre Jahre in der Mädchenwohngruppe dreht. Es solle aber keine Autobiografie in klassischen Sinne werden, „kein Buch mit meinem Gesicht auf dem Titel, nach dem Motto: ,Ich hab es geschafft.’ Denn meine Vergangenheit ist leider kein Einzelschicksal.“
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Das Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlicht seit 2015 einen jährlichen Bericht zur Partnerschaftsgewalt. Die jüngste Auswertung, erschienen im vergangenen November, basiert auf Zahlen aus 2021. Erfasst werden Taten in diesen Opfer-Tatverdächtigen-Beziehungen: Ehe, eingetragene Lebenspartnerschaft, nicht eheliche Lebensgemeinschaft sowie ehemalige Partnerschaft.
Bei den Tatverdächtigen waren 78,8 Prozent männlich, 21,2 Prozent weiblich. Bei den Opfern von Partnerschaftsgewalt verhält es sich umgekehrt: 80,3 Prozent waren Frauen oder Mädchen. Insgesamt gab es 121 Fälle von vollendetem Mord oder Totschlag in Partnerschaften, dabei starben 109 Frauen und zwölf Männer. Hinzu kamen sechs Fälle von Körperverletzung mit Todesfolge, bei denen vier Frauen und zwei Männer ihr Leben verloren.
Lisa Paus (Bündnis 90/Grüne), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, sagte anlässlich der Präsentation dieser Kriminalstatistik: „Fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch ihren derzeitigen oder vorherigen Partner. Das ist die Realität. Realität ist auch, dass viele Gewaltopfer Angst haben, sich Hilfe zu holen. Deshalb brauchen wir ein flächendeckendes, niedrigschwelliges Unterstützungsangebot.“