Düsseldorf. Martin lebte 32 Jahre lang in einer Beziehung, die immer gewalttätiger wurde – bis er in eine der wenigen Schutzwohnungen in Düsseldorf zog.
Martin bekommt keine Post nach Hause geschickt. Nie. Er hat den kleinen Zettel am Briefkasten gar nicht erst ausgefüllt. Auch an der Klingel fehlt sein Namensschild. Von außen verrät nichts, dass er im vergangenen Sommer in eine der Wohnungen des Mehrfamilienhauses gezogen ist.
Seitdem hat der 58-Jährige auch eine neue, eine „geheime“ Telefonnummer. „Ich mache das alles zu meinem eigenen Schutz“, sagt Martin, der eigentlich gar nicht so heißt. Er baut sich ein neues Leben auf. Ein Leben ohne Gewalt. Ein Leben ohne seine Frau.
29.000 Männer wurden 2020 Opfer von partnerschaftlicher Gewalt
32 Jahre lang führen die beiden eine Beziehung. Sie endet im Februar 2021, als Martin unter Polizeischutz das Haus verlässt und seine Frau in Handschellen abgeführt wird. Rund 150.000 Fälle von Gewalt in Partnerschaften wurden dem Bundeskriminalamt (BKA) für 2020 gemeldet. Die Dunkelziffer ist Schätzungen zufolge deutlich höher.
In 80 Prozent der Fälle waren die Opfer laut BKA weiblich, aber auch rund 29.000 Männer waren betroffen. „Hätte mir jemand gesagt, dass mir sowas passieren würde, hätte ich ihn für bekloppt erklärt“, sagt Martin.
Alkohol als Auslöser für partnerschaftliche Gewalt
Anfang der 1990er lernt er seine Frau kennen, als „eine zurückhaltende, ein bisschen verschlossene, aber ganz, ganz hübsche Person.“ An den Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal so richtig überrascht hat, erinnert er sich gut. Die beiden sind in einem Restaurant essen, auf einmal nimmt sie ihn in den Arm – und holt einen Ring aus ihrer Jackentasche. „Ich bin aus allen Wolken gefallen“, sagt Martin und lacht dabei. 1996 heiraten sie, vier Tage vor Weihnachten.
Es dauert einige Jahre, bis seine Frau wieder etwas Unerwartetes tut. Im Garten stolpert Martin über eine Flasche. „Schnaps? Wer trinkt denn hier Schnaps? Ich habe mich so gewundert, weil ich überhaupt keinen Alkohol trinke.“ Bald findet er immer häufiger leere Flaschen. Mal Bier, mal Wein, mal etwas Härteres. „Ich habe das erstmal beobachtet und sie dann darauf angesprochen. Dann hieß es, sie habe nur mal mit der Nachbarin einen getrunken oder hatte beim Fernsehen Lust auf eine Flasche Bier. Aber es ist peu à peu aus dem Ruder gelaufen.“
Opfer von häuslicher Gewalt: „Sie hat gesagt, sie würde mich abstechen.“
Mit dem Alkohol kommt die Eifersucht. „Wieso bist du nicht an dein Telefon gegangen? Warum kommst du so spät nach Hause? Da stimmt doch etwas nicht! Du hast bestimmt ein Verhältnis.“ Diesen Vorwürfen muss sich Martin immer häufiger stellen, auf den psychischen „Horror“ folgt einige Jahre später die körperliche Gewalt.
„Ich war total erschrocken, als sie das erste Mal handgreiflich wurde. Ich habe sie abgewehrt und gefragt, was mit ihr los ist. Sie hat sich dann entschuldigt und gesagt, dass ihr eine Sicherung durchgebrannt ist.“ Die Erinnerungen wühlen Martin noch heute auf. Er gerät ins Stocken, als er davon erzählt, wie seine Frau ihn mit einem Messer bedroht hat. „Es war wie bei einer Tollwut. Sie hat sich tierisch aufgeregt, rumgeschrien, gesagt, sie würde mich abstechen.“
Der schwere Weg aus dem Gewaltkreislauf
Er habe sie weggeschubst und sich im Nebenzimmer „verbarrikadiert“ – und schließlich die Polizei gerufen. Während seine Frau ihn durch die verschlossene Tür anschreit, versucht Martin dem Beamten zu erklären, dass er dringend Hilfe brauche. Was denn mit ihm los sei, es könne doch nicht sein, dass er seine Frau nicht im Griff hat, habe der Polizist ihm geantwortet.
Nach einer „gefühlten Ewigkeit“ trifft die Polizei schließlich bei ihnen ein und richtet „mahnende Worte“ an Martins Frau. Er schläft an diesem Abend im Arbeitszimmer, schließt die Tür hinter sich ab. Konsequenzen zieht er nicht. Immer wieder verspricht sie ihm, sich zu bessern. Immer wieder ruft er die Polizei.
Häusliche Gewalt: Opfer geben häufig sich selbst die Schuld
Ob er nie darüber nachgedacht habe, sie zu verlassen? „Jein. Das kann ich nicht so beantworten. Vielleicht lag es an der Zuneigung, weil man schon so lange zusammen ist. Oder daran, dass man nur das Gute im anderen sehen will.“ Ein älterer Polizist rät Martin – nachdem er dreimal bei ihm im Einsatz war – seine Frau wegen häuslicher Gewalt anzuzeigen.
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„Er sagte zu mir: ‚Hör mal zu Jung, das kann so nicht weitergehen‘. Er hat gut auf mich einreden wollen, aber ich wollte das meiner Frau nicht antun.“ Das Problem sei außerdem, dass Martin angefangen habe, die Schuld bei sich zu suchen: „Was hätte ich anders machen müssen? Was kann ich in Zukunft besser machen?“
„Mir war das einfach peinlich, zu sagen: Meine Frau schlägt mich“
Über seine Ängste und Gewalterfahrungen konnte er lange Zeit mit „gar niemandem“ reden. Seine Frau habe alle Kontakte zur Nachbarschaft und zum Freundeskreis abgebrochen. Auch seinen Kollegen auf der Arbeit wollte Martin sich nicht anvertrauen: „Ich habe denen natürlich nichts erzählt. Mir war das einfach peinlich, zu sagen: ,Meine Frau schlägt mich.’“
Er geht damals nach Feierabend „nur noch mit dem Gedanken, was heute wieder passieren wird“ nach Hause. Bis er eines Tages nicht mehr in sein altes Leben zurückkehrt. Zweimal hatte er seine Frau zuvor wegen häuslicher Gewalt angezeigt. Sie bekam jeweils zehn Tage Aufenthaltsverbot, riss sich zwei Wochen lang nach ihrer Rückkehr zusammen – „und dann ging das Theater wieder von vorne los“. Da habe Martin „die Reißleine gezogen.“ Warum er es gerade an diesem Abend geschafft hat, auszubrechen, kann er gar nicht mehr genau sagen.
Betroffener findet Zuflucht in Düsseldorfer Schutzwohnung
Nachdem seine Frau abgeführt wird, verbringt Martin die erste Nacht im Auto. Er ruft die Telefonseelsorge an, die ihm einen Platz in einer der wenigen Schutzwohnungen für Männer in NRW vermittelt. Aktuell stehen in Deutschland für gewaltbetroffene Frauen rund 6.800 Plätze in Frauenhäusern, Schutzwohnungen oder ähnlichen Einrichtungen zur Verfügung. Für Männer sind es bundesweit nur 37.
Martin hatte Glück, wurde nicht – wie so viele andere – abgewiesen. Er konnte mehrere Monate in einer Wohnung in Düsseldorf verbringen, in der er zusammen mit drei anderen Betroffenen lebte. Vor Ort wurde er von einem Sozialarbeiter betreut, der ihm dabei half, „wach zu werden“, wie er heute sagt. Er riet ihm auch dazu, eine Tabelle anzulegen: Auf der einen Seite schrieb Martin alles auf, was gegen seine Frau spricht. Die andere Spalte, die für die positiven Dinge gedacht war, blieb leer. In wenigen Tagen ist die Frau, die er 32 Jahre lang „seine Frau“ nannte, offiziell von ihm geschieden.
Betroffener aus NRW rät zu professioneller Hilfe
Mittlerweile habe er sich gut eingelebt in seinem neuen Zuhause und enge Freundschaften aufgebaut. „Am Anfang war es ein blödes Gefühl, allein zu sein. Aber eigentlich war ich ja mein ganzes Leben allein.“
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Was ihm geholfen habe? „Darüber reden. Man muss sich professionelle Hilfe suchen. Und nach vorne blicken. Ich habe vor Kurzem sogar eine neue Frau kennengelernt. Das soll mein Schlusssatz für andere betroffene Männer sein.“
Betroffene können sich an das Männerhilfetelefon unter der bundesweiten Telefonnummer
08001239900 wenden. Hilfe findet man auch im Internet auf der Seite des Opferschutzportals: www.opferschutzportal.nrw und auf der Seite des SKM: www.skmev.de.